Journalismus: Sommer kontra Ulrich:Eine Frage der Zeit-Geschichte

Anhand eines sonnigen Kohl-Artikels in der Zeit entzündet sich dort der Streit, wie blasiert das Blatt einst war. Alt-Chefredakteur Sommer korrigiert die jetzige Führung.

H.-J. Jakobs und L. Jakat

Das gehört nicht unbedingt zum journalistischen Alltag. Der stellvertretende Chefredakteur des angesehenen Wochenblatts Zeit kritisiert in seiner liebevollen Geburtstags-Hommage für Altkanzler Helmut Kohl (CDU) sogar die Blattmacher vergangener Tage - und einer der Attackierten schreibt prompt zurück, eine ganze Seite lang, und macht Fehler über Fehler aus.

Öffentlich wird über die Identität der Zeit gerungen, über die politische Haltung und ihre Vergangenheit, über ihr liberales Erbgut und politische Haltung. Anlass: der 80. des konservativen Idols Kohl, dem die linke Hamburger Kampfpresse, die Zeit inklusive, stets ein Ärgernis war.

Bernd Ulrich, Politikchef und seit 2003 stellvertretender Chefredakteur, attestiert seinem Blatt, es habe Ende der achtziger Jahre ein Missverhältnis zu Kanzler Kohl gegeben, ja sogar eine "Aversion". Man habe mit ihm nichts so recht anzufangen gewusst: "Die Zeit saß vor dem Mann wie mit der Gabel vor der Suppe", so Ulrich in seinem Stück "Er, die Geschichte und wir". Die Ursache für diesen angeblichen Zwist sieht der Zeit-Vize nicht etwa in politischen Stellungskämpfen an der konservativ-progressiven Gefechtslinie - sondern entscheidend sei die seiner Meinung nach fälschliche Interpretation Kohls gewesen.

Das pfälzische Gesamtkunstwerk verstand danach auf dem Planeten Speersort, dem Sitz der Zeit, niemand. Ulrich sieht die problematische Beziehung in tiefensoziologischen Spalten begründet: "Es ging um einen Klassengegensatz", schreibt er am 25. März auf Seite zwei. "Die Zeit war lange bestimmt vom liberalen hanseatischen Geldadel, vom protestantischen Geistesadel und vom preußischen Adel, Dreifachadel sozusagen." Aus dieser Mentalität heraus, diagnostiziert der heutige Verantwortliche aus der Generation Golf, habe es die damalige Zeit-Redaktion dem Kanzler Kohl nie ganz verziehen, "dass er kam und blieb und blieb".

Mit dieser Haltung habe das Blatt damals jedoch falsch gelegen, lässt Ulrich durchblicken. Wie zum Beweis und zur gleichzeitigen Entschuldigung an den Altkanzler, schreibt er: "Helmut Kohl ist ein großer Deutscher." Groß genug kann er jetzt für die Zeit gar nicht sein. Deshalb schreibt Ulrich diesen Großer-Deutscher-Satz immer wieder, sodass ihn auch der Letzte der Altvorderen versteht.

Doch die Zeitläufe haben die Beschuldigten und einst Verantwortlichen ganz anders in Erinnerung. Dreifachadel? Dünkel gegen Kohl, dem Aufsteiger aus der Provinz, wie Ulrich insinuiert? Da muss der langjährige Chefredakteur Theo ("Ted") Sommer ran und darf auf der Seite sieben der aktuellen Ausgabe Zeit-Geschichte lehren. Die Wochenzeitung aus dem Holtzbrinck-Reich macht aus ihrem Hadern mit der eigenen Identität eine öffentliche Debatte.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Theo Sommer Ulrichs Analyse zerpflückt.

"Keine Frage der Klasse"

"Keine Frage der Klasse", überschreibt Sommer, der von 1973 an zwei volle Jahrzehnte Chefredakteur der Wochenzeitung war, seine Replik auf Ulrich. Es reagiert Alt auf Jung, General auf Leutnant. Punkt für Punkt nimmt Theo Sommer in kritischem Ton und auf 300 Zeilen Ulrichs Skizze der alten Zeit auseinander: "Die Provinzler hätten wir verlacht? Nonsens", schreibt er. "Der Klassenunterschied habe unsere Haltung bestimmt? Dass ich nicht lache."

Vielmehr seien die meisten Autoren des Hauses Zeit ja selbst vom Lande nach Hamburg gekommen. Die Beziehung zu Kohl, die zudem viel früher als von Ulrich geschildert begonnen habe, sei weitaus vielschichtiger gewesen: "Auch war das Tischtuch zwischen Zeit und Kohl keineswegs komplett durchschnitten", schreibt Sommer. Ja, es habe persönliche Animositäten gegeben, ja, Kohl sein ein "großer Übelnehmer und paranoider Verdächtiger der Medien" gewesen. Aber, so Sommer: "Das war nur eine Seite der Medaille."

Der langjährige Kopf der Zeitung berichtet von vertraulichen Hintergrundgesprächen Kohls mit den Zeit-Autoren Christoph Bertram und Nina Grunenberg, vom Wechsel des Wirtschaftschefs Diether Stolze als Kohls Regierungssprecher nach Bonn.

Sommer, der einst seine journalistische Karriere bei der Rems-Zeitung begonnen hat, verbittet sich nicht nur die Kritik, man habe Kohl während der ersten Monate der deutschen Einheit falsch eingeschätzt. Vor allem reagiert er äußerst pikiert auf den Vorwurf des Standesdünkels. "Die Behauptung, sie (die Zeit, Anm. d. Red.) sei lange bestimmt gewesen vom protestantischen Geistesadel, ist genauso absurd wie die Unterstellung abwegig wäre, die von den Katholiken Giovanni di Lorenzo und Bernd Ulrich geleitete Zeit werde vom Erzbischöflichen Ordinariat Hamburg oder von der Deutschen Bischofskonferenz bestimmt", empört sich Sommer. "Standesdünkel? In der überwiegend bürgerlichen Ursuppe der Zeit war davon nichts zu spüren."

Natürlich geht es auch um die historische Leistung Kohls, den Ulrich in seiner alten Zeit als zu klein abgetan sah. Alt-Chefredakteur Sommer beharrt: "Nein, wir haben Kohl vor 1989 richtig beurteilt" Und legt dar, dass Kohl, anders als von Ulrich dargestellt, nie von "Hamburger Mafia" gesprochen habe, sondern von "Hamburger Kumpanei".

Bis ins letzte Detail korrigiert Sommer den amtierenden Zeit-Vize Ulrich. Der hatte geschrieben, 1976 habe das Missverhältnis zwischen Zeit und Kohl begonnen, weil das Blatt den Schriftseller Walter Kempowski geschickt hatte, der den Politiker "von einer Bildungslücke in die nächste" gejagt habe. Tatsächlich habe sich Kohl erfolgreich als "gebildeter Viel-Leser" präsentieren können - Ärger bereite hernach nur, dass dem CDU-Mann die Interview-Version nicht wie vereinbart vor Drucklegung zum Gegenlesen geschickt worden war. Es habe kein "einheitlich gestanztes Kohl-Bild" gegeben, so Sommer, wohl aber eine "Galerie von Porträts, deren jedes die ernsthafte Bemühung um Verständnis spüren ließ."

Das Fazit des Ex-Chefs über das Werk Ulrichs: "'Wir' - das soll die Zeit gewesen sein. Wir waren es aber nicht."

Darüber wird man in Hamburg sicherlich noch einmal reden.

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