Jahresrückblicke im TV:Wie der Dezember in der Zeitfalte verschwindet

Das Jahr hat nur noch elf Monate - zumindest für das Fernsehen und die Jahresrückblicke, denn diese starten schon im November. Der Dezember, wo ist er geblieben? Es geht offenbar verloren in einer unergründlichen medialen Zeitfalte.

Alex Rühle

Hätte es seinerzeit schon Fernsehen gegeben, Jerusalem TV hätte in seinem Jahresrückblick das eigentliche, das grundstürzende Event des Jahres gar nicht mehr drin gehabt: Den supernovahellen Stern, der da plötzlich über dem Dorf Bethlehem strahlte. Die verstörten Hirten als Augenzeugen. Und vor allem nicht den Stall, in dem unter den erstaunten Blicken von Ochs und Esel in dieser stillen Nacht die neue Zeit begann.

Erfurter Weihnachtsmarkt

Der Weihnachtsstern, damals bei Maria und Josef - hätte man über ihn im Jahresrückblick berichtet?

(Foto: dpa)

Statt dessen wieder nur alter Wein in neuen Schläuchen: Klatsch und Tratsch von Herodes und seiner Frau. Werbeblöcke von den Händlern im Tempel, Leviten von den Pharisäern. Und zum Ausklang bisschen Imperatorenhuldigungen ans ferne Rom. Die Menschen in Judäa hätten beim Ausschalten das Gefühl gehabt, jetzt wüssten sie umfassend Bescheid über das Jahr 3761 nach jüdischer Zeitrechnung und keiner, keiner hätte mitbekommen, dass sich ebendieses Jahr in jener Nacht hinter ihrem Rücken ins Jahr Null verwandeln sollte.

Ja, wissen wir selber. Es gab damals kein Fernsehen. Und für viele Menschen hat sich natürlich die Zeitrechnung auch nach dieser heiligen Nacht nicht verändert. Die Frage, die uns hier bewegt, ist eine ganz andere: Warum gibt es all die Jahresrückblicke, mit denen wir momentan fast täglich beglückt werden, eigentlich nicht an Silvester? Warum resümieren alle schon von Ende November an? Ist das nicht so, als würde man bei einer Wanderung hundert Meter unter dem Gipfel picknicken? Und wenn das so weitergeht, wird dann irgendwann im Mai schon resümiert?

Wir kennen den Grund: Weil's die anderen genauso machen. Weil alle, Zeitungen genau wie Sender, Angst haben, zu spät dran zu sein. Schade ist es dabei nur um den Dezember. Der fällt Jahr für Jahr durch den Rost: Taucht weder in den Rückblicksheften auf, noch darf er je bei Jauch oder Kerner hocken. Es ist, als würde alles, was zwischen dem 1. und dem 31. Dezember geschieht, in einer Art Zeitfalte verschwinden, einem schwarzen Loch.

Apropos, da haben sie gerade eines entdeckt, größer als jedes zuvor. Mit der Masse von zehn Milliarden Sonnen, in einer Nachbargalaxie. Nie wird es Hausbesuche von Kerner erleben. Nie wird Jauch uns davon künden. Oh, Dezember, du Paria unter den Monaten, du sonst so Kastenloser, in diesem kleinen schwarzen Kasten wollen wir deiner gedenken.

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