60 Jahre Presserat:Der Presserat nimmt Journalisten die Verantwortung nicht ab

60 Jahre Presserat - Tageszeitungen

Zum Abdruck von Rügen haben sich Verlage und Zeitungen via Pressekodex selbst verpflichtet.

(Foto: dpa)

Genau seit 60 Jahren gibt es den Presserat. Er ist ein freiwilliges Kontrollorgan - nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Von Carolin Gasteiger

In einer Zeit kollektiver medialer Verunsicherung feiert der Deutsche Presserat Jubiläum. Als freiwillige Instanz publizistischer Selbstkontrolle kümmert sich der Presserat seit 60 Jahren um die Einhaltung presseethischer Standards. Er ist Anlaufstelle für die Beschwerden von Lesern.

Vor 60 Jahren drohte Kanzler Konrad Adenauer, eine Kommission einzurichten, um die Presse zu regulieren. Das versetzte die damalige Journalistenbranche in Aufruhr. Als Bollwerk gegen politische Einflussnahme gründeten sie 1956 den Presserat, der eine doppelte Funktion übernahm. Er ist die moralische Vertretung aller Journalisten nach außen - und eine sich selbst überprüfende Instanz nach innen. Aber mit dieser doppelten Funktion geht eine doppelte Krux einher.

Die erste: Wenn Zeitungen oder Zeitschriften gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat einen Hinweis, eine Missbilligung oder eine Rüge aussprechen. Letztere muss, die anderen können abgedruckt werden. Im schlimmsten Fall bedeutet eine Sanktionierung durch den Presserat also einen Imageschaden für das Medium und die dahinterstehenden Journalisten. Allerdings: Wenn der Abdruck nicht erfolgt, hat es keine weiteren Konsequenzen. Denn die Verlage haben sich verpflichtet, sich an den Pressekodex und die darin aufgeführte Rügenveröffentlichung zu halten. Zwingen kann der Presserat die Verlage nicht. Also steht und fällt seine Funktion und Wirksamkeit mit der Angst der Journalisten vor dem drohenden Imageschaden.

Im vergangenen Jahr gab es 2538 Beschwerden, zwei Jahre zuvor waren es noch 2009. Die Stimmen, die beim Presserat eingingen, seien zum Teil sehr fordernd und aggressiv gewesen, so Geschäftsführer Lutz Tillmanns. Auch hier schlage sich eine eher pauschale Kritik an den Medien nieder. Trotzdem widme sich der Rat den Anliegen, insofern ein Ansatz an sachlicher Kritik vorhanden sei. Im vergangenen Jahr wurden 35 Rügen verzeichnet, 2014 waren es 21. Nahezu alle deutschen Verlage haben sich verpflichtet, diese Rügen abzudrucken.

Die zweite Krux liegt in der Verpflichtung des Gremiums, sich für die Pressefreiheit einzusetzen, die Presse also so frei wie möglich agieren zu lassen. Auf der einen Seite will der Presserat Journalisten und Redaktionen presseethische Leitlinien an die Hand geben, sie auf der anderen Seite aber nicht bevormunden. Dementsprechend vage sind die Leitlinien formuliert und dementsprechend lange benötigt der Rat, sie auszuarbeiten.

Twitter als besserer Presserat?

Jüngstes Beispiel ist Ziffer 12.1. des Pressekodex', in der es um Diskriminierung geht. "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht", heißt es. Und in einem weiteren Satz: "Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte."

Nach den Vorfällen in der Kölner Silvesternacht ging es um die Frage, ob der Passus verhindere, dass über die Nationalitäten von Verdächtigen berichtet würde. Manche Redaktionen würden lieber die lieber verschweigen, als eine Rüge des Presserats zu riskieren, hieß es. Als Reaktion auf die Kritik prüfte der Presserat die Richtlinie - und behielt die Formulierung der Ziffer bei. Ganz ausgeräumt sind die Bedenken jedoch nicht. Die Sächsische Zeitung etwa entschloss sich, Ziffer 12.1. zu ignorieren und konsequent die Herkunft von Straftätern zu nennen, aber nicht nur bei Ausländern, sondern auch bei Deutschen. Beschwerden habe es kaum gegeben, meint Chefredakteur Uwe Vetterick.

Trotzdem arbeitet der Presserat an Leitlinien für die Redaktionen, wie Ziffer 12.1. richtig angewendet werden kann. Sie sollten im Herbst erscheinen. Aber das verzögert sich. Je intensiver man sich mit der Thematik befasse, desto schwieriger sei es, verteidigt Tillmanns die Verzögerung. Das Thema sei heikel. Schließlich wolle man weder Publikationen mit besonders guter Berichterstattung noch die besonders schlechten Beispiele hervorheben. Und Redaktionen fühlten sich schnell bevormundet. Die Richtlinien sollen in den nächsten Monaten fertiggestellt werden, meint Tillmanns.

Aber auch sie dienen lediglich der Orientierung. Welche Standards eingehalten werden und wie genau, das muss von den Journalisten selbst kommen. Manche fühlen sich durch die Digitalisierung unter Druck gesetzt. Immer schneller verbreiten sich Nachrichten, in Sekundenschnelle wird auf Twitter und Facebook kommentiert und weiterverbreitet.

Zum Beispiel beim Amoklauf in München. In Minutenschnelle tauchten unverifizierte Informationen und wurden über die sozialen Medien verbreitet. "Wir müssen da einen Kontrapunkt setzen mit einer vorher genau überdachten ethischen Bewertung", sagt Tillmanns.

Letztendlich obliegt es Verlagen und Redaktionen, über den Pressekodex und seine Auslegung zu diskutieren. Das kann zu einer Entscheidung wie bei der Sächsischen Zeitung führen, muss es aber nicht. Wichtig ist, dass Redaktionen regelmäßig das eigene Verhalten reflektieren und dies auch Lesern gegenüber transparent machen. Viele Medien spüren, dass sich das Publikum entfernt. Wer hier den Dialog sucht, tut viel dafür, diese Lücke zu schließen. Journalisten müssen die Scheu davor verlieren, mit kritischen Lesern über ihre Entscheidungen zu diskutieren. Viele Journalisten tun das auf Twitter, weswegen manche in dem sozialen Netzwerk auch den geeigneteren Presserat sehen.

Journalisten denken dort über das Zustandekommen eines journalistischen Beitrags nach, Auslandskorrespondenten reflektieren dort ethische Herausforderungen der Kriegs- und Krisenberichterstattung. Und Journalisten erhalten dort mehr Kritik als über die klassischen Instrumente der Medienselbstkontrolle. In Twitter sieht Tillmanns keine Konkurrenz. Im Gegenteil: "Der ethische Diskurs über Journalismus findet nicht nur im Presserat statt, sondern zuvörderst und vor allem in den Redaktionen selbst." Und eben in den sozialen Netzwerken - und damit in der Verantwortung des einzelnen Journalisten. Und die ist in den vergangenen 60 Jahren nicht kleiner geworden. Im Gegenteil.

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