Internationales Fernsehen:Und draußen die Welt

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Nach Plänen der EU kann man sein Sky- oder Netflix-Abo bald in den Urlaub mitnehmen. Schade: War das TV-Programm in der Fremde doch stets eine Einladung zur Entdeckungsreise.

Von René Hofmann

Josef Bierbichler hat seine Reize. Und aus großer Distanz betrachtet, wachsen die noch einmal. Vor etlichen Jahren stapfte Bierbichler als Der Architekt durch ein verschneites Alpendorf, das der Hauptdarsteller des Films zwanzig Jahre zuvor verlassen hatte. Es ist ein melancholisches Werk, in dem neben dem unglücklichen Architekten vor allem der Schnee eine wichtige Rolle spielt - weil er alles so schön zudeckt und dämpft. Von dem Film bleibt nachher nicht unbedingt die Handlung in Erinnerung, sondern vor allem ein Gefühl. Und das ist noch einmal ein ganz besonderes, wenn einem eine Wiederholung zuweht, im Februar, in Melbourne, nach einer 24-Stunden-Reise in viel zu engen Flugzeugen. Aufgekratzt vom Jetlag lässt sich vor dem Fernseher dann darüber staunen, dass in Australien im Nachtprogramm deutsche Spielfilme mit Untertiteln laufen, in denen ein fast 60-Jähriger einen Bauch vorführt, wie ihn 60-jährige Männer heute nicht mehr oft im Fernsehen vorführen. Wenn Bierbichler am Ende in den Schnee irrt, durch die offene Balkontür der warme Wind des australischen Sommers hereinfährt und das teure Bier in den kleinen Flaschen allmählich warm wird, ist es Zeit für die größeren Erkenntnisse: Wie groß die Welt doch ist. Und gleichzeitig wie klein.

Das Fernsehen als ein Fenster, das einen Blick in eine andere Welt öffnet: Das könnte bald schon überholt sein. Zumindest in Europa. Die EU-Kommission, das EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten der EU haben sich kürzlich darauf verständigt, dass Reisende ihre Online-Abodienste wie Sky oder Netflix künftig überall nutzen können. Dass es also keine Rolle mehr spielt, in welchem Land einer sich befindet, der eine Serie oder eine Fußball-Übertragung schauen mag, für die er bezahlt hat. Auch für kostenpflichtige Musik-Abos, wie sie Spotify bietet, soll die Regelung gelten. All das muss vom Europäischen Rat und vom EU-Parlament noch bestätigt werden. Aber das gilt als Formalie. Schon Anfang 2018 dürften die Daten ungehindert über die Grenzen fließen. Dann hieße es auch auf Reisen allerorten: Meine Filme! Meine Musik! Meine E-Books! Meine Video-Spiele!

Im italienischen Fernsehen hielt die Kamera unverfroren auf die Beine der Moderatorinnen

Es ist ein Trend, der auf den ersten Blick vielem entgegenläuft: Während wieder mehr und mehr Grenzen für Menschen und Waren errichtet werden sollen, fallen die letzten Hemmnisse für den Datenfluss. Von diesem Sommer an schon wird es in der EU keine Roaming-Gebühren mehr geben. Im Urlaub kann alles dann so günstig geladen werden wie daheim. Und natürlich werden viele Reisende das dann auch tun. Schon im vergangenen Jahr nutzten zwei Drittel der Europäer die Möglichkeit, Unterhaltungsinhalte aus dem Internet zu saugen. Jede Wette: Die Quote wird weiter steigen. Und: Der Wunsch nach dem online verfügbaren Stoff wird garantiert nicht dort halt machen, wo heute die EU aufhört.

Wenn jeder seine eigene Unterhaltungs-Blase überall mit hinnehmen kann, gibt es weniger Anlass, im Hotel den Fernseher anzuschalten. (Foto: Werner Gritzbach/face to face)

Schon jetzt kann sich ein jeder seine eigene Unterhaltungs-Bubble kreieren. Künftig wird er diese Blase auch so gut wie überall mit hinnehmen können; im Computer, im Tablet, im Handy. In der Fremde den Fernseher anzuschalten: Dieser Reiz wird nachlassen. Womöglich wird er irgendwann ganz verschwinden, wie mit der Verbreitung des satellitengestützten Fernsehens irgendwann die Freude verschwand, wenn einem in der Ferne unerwartet deutsche Programme offeriert wurden.

Was alle damit gewinnen, ist klar: Die Gewohnheiten werden mobil. Wer will, dem entgeht live kein Treffer seines Lieblingskickers mehr. Wer will, kann an jedem Strand und auf jedem Berg, über dem ein stabiles Netz liegt, beobachten, wie Kevin Spacey in House of Cards weiter intrigiert. Die viel spannendere Frage lautet deshalb: Was wird mit der neuen Freiheit verloren gehen? Welche Gewohnheiten werden verschwinden? Und was mit ihnen?

Es gibt ein oft bemühtes Bild: das Fernsehprogramm sei ein modernes Lagerfeuer. Eine Glut, die zum wärmenden Miteinander einlädt. Das klingt nach Nachkriegsromantik. Wer aber je in einer australischen Sommernacht gemeinsam mit einem Freund Josef Bierbichler durch den Schnee stapfen sah, der weiß: Da ist immer noch eine Menge dran. Ein Miteinander wie vor dem Fernseher gibt es vor dem Handy nicht. In der Blase ist es eng. So eng, dass Carlo Ancelotti, der Trainer des FC Bayern, seine Mannschaft vor Heimspielen schon gar nicht mehr in einem Hotel zusammenholt, um die Konzentration zu schärfen, wie er der SZ unlängst in einem Interview erzählte: Die Kicker würden sich eh nicht mehr austauschen, so der Italiener, der in den Sechzigerjahren auf einem Bauernhof in der Emilia Romagna aufwuchs, ein jeder hätte nur noch Augen für sein Mobiltelefon.

Gaddafi-TV

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(Foto: Thomas Kost/WDR)

Auf Reisen sollte man aus moralischen und allgemein menschlichen Gründen nicht fernsehen. Manchmal bleibt einem nichts anderes übrig. Vor Jahren war ich mit Frank Schirrmacher, dem leider gestorbenen, letzten richtigen Herausgeber der FAZ in Libyen. Wir wollten von Bengasi nach Tripolis fliegen, was die damals noch herrschenden Gaddafi-Schergen verzögerten. Sie waren nicht unfreundlich, sperrten uns aber in einen Raum am Flughafen. An der Decke hing ein TV-Gerät, unerreichbar, unumschaltbar. Es lief die Lindenstraße auf Deutsch. Man wollte uns offenbar etwas Gutes tun, während man beriet, ob man uns fliegen ließ oder ins Gefängnis bringen sollte. Nach zwei Stunden Lindenstraße durften wir nach Tripolis.

Lebensfreunde

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(Foto: Reuters)

Las Vegas, als man noch D-Mark wechselte und unten im "Mirage" Siegfried & Roy ihre Zaubershows aufführten. Weit oben, in einem bemerkenswert günstigen Zimmer, ein junges Paar mit Heimweh. Kein Spaß am Roulette, keine Lust auf die Zaubershow. Draußen scheint alles aus Plastik zu sein. Also: Fernseher an, da sind Menschen zu sehen, die scheinen zu sein wie die, die davorsitzen. Die Probleme, der Humor, das popkulturelle Referenzsystem. Friends heißt die Serie, und sie schafft in dieser seltsamen Stadt so etwas wie Heimatgefühl. Zurück in Deutschland konnte man sie nur auf VHS-Kassetten in der Fremdsprachenvideothek ausleihen. Bis heute bleibt Friends mit Originalton die beste Erinnerung an Las Vegas.

Homeshopping

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(Foto: imago)

Um den Preis zu drücken, wurde der Radius des Freundeskreises leichtsinnig erweitert, 14 Menschen bezogen am Ende das Haus auf dem Darß. Wesentliche Folge: Wartezeiten. Bei der Dusche, am Herd, vor allem: vor dem gemeinsamen Aufbrechen zu Ausflügen. Eines Vormittags blieben zwei Reisende beim Zapping hängen, ein obskurer, bislang unbekannter Satellitenkanal, in dem für ein Multizerkleinerungsgerät geworben wird. Die Werbeschleife wiederholte sich immer und immer wieder, bald schon saß die Gruppe vollzählig vor dem Fernseher. Große Spottfreude über Häcksler und Koch. Der Tag verstrich, am Morgen darauf hing ein Zettel zum Eintragen an der Tür: Am Ende waren es acht Striche, Sammelbestellung.

Bauernandacht

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(Foto: imago)

Jeden Herbst kommen die Bauern und Nomaden in das marokkanische Imilchil. Dort im Hohen Atlas findet ein Heirats-, aber auch ein gewöhnlicher Viehmarkt statt. Vor zwanzig Jahren gab es dort noch keinen Strom und erst recht kein Fernsehen. Am Abend aber fanden die Besucher unter einem Stoffdach zum Fernsehen zusammen: Der Generator brummte, eine provisorische Antenne fischte Bilder aus dem Weltall. Fremd waren sie, ganz fremd: Reklame für unbekannte Produkte, dröhnend angepriesen, dann Nachrichten, nicht weniger laut vorgetragen von strengen Damen. Es handelte sich um das Abendprogramm des slowakischen Fernsehens. Niemand konnte andächtiger sein als die marokkanischen Bauern in Imilchil.

Die neuen Möglichkeiten werden das Blickfeld verändern. Wahrscheinlich wird es enger werden. Für viele Reisende war das Fernsehprogramm in der Fremde von allen Gewohnheiten gelöst auch immer eine Einladung, auf eine Entdeckungsreise zu gehen. In Australien ließ sich in den Achtzigerjahren die Seifenoper Neighbours bestaunen, in den USA in den Neunzigerjahren wunderbare Sitcoms und in Großbritannien tat sich ab Oktober 2002 mit der Erstausstrahlung von Top Gear eine wohltuende Erkenntnis auf: Hey, Autosendungen können ja tatsächlich lustiger sein als Der 7. Sinn!

Selbst dort, wo die Sprache manche Barriere errichtete, konnten sich spannende Einsichten bieten: Wie unverfroren im italienischen Vorabendprogramm die Kameraleute die auffallend langen Beinen der auffallend vielen Moderatorinnen hinauffilmten zum Beispiel. Und wie rapide das Spätprogramm anschließend in eine Prüderie verfiel, die an die frühen Don Camillo und Peppone-Episoden erinnerte, während im französischen Fernsehen Filme liefen, bei denen in der Bildschirmecke ein "+16" eingeblendet war. Das Fernsehprogramm konnte einem mehr über die Kultur manches Landes erzählen als viele Museen.

Natürlich wird das nicht schlagartig sterben. Der Kulturwandel ist ein Prozess. Technische Entwicklungssprünge beschleunigen ihn ebenso wie rechtliche - und ein solcher steht nun an. Der freie Datenfluss wird die Bedeutung des Fernsehens weiter schrumpfen lassen. Der Glaube, bewusster Verzicht könne dem entgegenwirken, ist naiv. Klar, wer will, kann auch künftig ohne Handy und Tablet durchs Leben reisen. Aber wer um sich blickt, sieht, wie wenig verbreitet die Neigung dazu ist. Und wenn die Geräte da sind, dann werden sie auch genutzt, wo immer sie funktionieren.

Als die ersten Fernseher mit Fernbedienung aufkamen, gab es nicht wenige, die behaupteten: So eine Fernsteuerung ist unnötig. Ich weiß, was ich sehen will - und Ausschalten kann ich auch direkt am Gerät. Welch grandioser Irrglaube! Aus dem Spiel mit der Fernbedienung entwickelte sich eine Kulturtechnik: das Zapping. Der Tag, an dem es mit dem endgültig vorbei sein wird - er kommt näher.

© SZ vom 25.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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