Im Gespräch: Jürgen Domian:Ein Fernsehmann schaut in Abgründe

Jürgen Domian redet seit 15 Jahren nachts im Fernsehen mit Menschen in Not. Der Moderator über Mörder, Polizeieinsätze und seinen neuen Roman.

Christina Maria Berr

Jürgen Domian, 52, ist der Talker der Nacht: In seiner Sendung Domian, die auf dem Radiokanal 1 Live und im WDR Fernsehen Dienstag bis Samstag von ein bis zwei Uhr morgens ausgestrahlt wird, spricht der Moderator mit Anrufern über deren Anliegen und Probleme. Am 1. April 2010 wird die Sendung 15 Jahre alt. Soeben ist außerdem sein zweiter Roman Der Gedankenleser (Heyne Verlag) erschienen.

sueddeutsche.de: In Ihrem neuen Roman Der Gedankenleser kann die Hauptfigur Gedanken lesen - und damit wird das Leben tragisch: Die Ehe geht kaputt, der Job ist weg. Wenn wir alle Gedanken lesen könnten - würde das immer in die Katastrophe führen?

Jürgen Domian: Ich glaube, dass es eine große Gnade ist, dass wir das nicht können. Wir würden alle verzweifeln. Es ist ein guter Schutzmechanismus der Natur, dass eine gewisse Distanz zu anderen Menschen bestehen bleibt. Bei der Hauptfigur meines Romans hat das zur Folge, dass sein Menschenbild komplett zerbricht.

sueddeutsche.de: Glauben Sie, es würde beispielsweise nicht zur Trennung von der Frau kommen, wenn er keine Gedanken lesen könnte?

Domian: Ja. Es ist einfacher, im Trott weiterzuleben. Aber so ein symbolischer Blitzschlag, der zu einer Veränderung führt, ist nicht nur negativ. Das höre ich auch in meiner Sendung oft - dass schwere Schicksalsschläge etwas sind, das das Leben verändern kann.

sueddeutsche.de: Die Idee zum Gedankenleser stammt vermutlich aus Ihrem Beruf: Sie versuchen seit 15 Jahren im Fernsehen, Abend für Abend die Gedanken wildfremder Menschen nachzuvollziehen.

Domian: Seit Beginn dieser Sendung habe ich etwa 18.000 Interviews geführt und wurde mit unzähligen geheimen Gedanken konfrontiert, die Menschen mir offenbart haben. Gedanken, Erlebnisse, Erfahrungen, die sie noch nie erzählt haben. Das hat inspiriert. Und: Die Sendung hat mein Menschenbild verändert.

sueddeutsche.de: Inwiefern?

Domian: Ich bin viel skeptischer geworden. Ich konnte vorher die Abgründe nicht so ermessen. Es vergeht keine Woche, in der wir, die wir die Sendung machen, nicht etwas hören, das uns erneut fassungslos macht. Da geht es um Folter oder Mord oder auch um sexuellen Missbrauch.

sueddeutsche.de: ... gerade ein Thema bislang unbekannten Ausmaßes ...

Domian: ... nach allem, was ich in der Sendung gehört habe, überrascht mich das Ausmaß der momentan bekanntgewordenen Fälle nicht.

sueddeutsche.de: Kann man da überhaupt noch an das Gute im Menschen glauben?

Domian: Schon. Aber ich glaube, dass das Schlechte im Menschen überwiegt.

"Ich denke immer an Schattenseiten und Abgründe"

sueddeutsche.de: Wenn Sie Menschen begegnen, denken Sie dann: Welche Leiche hat der wohl im Keller?

Domian: Ja, ich denke immer, welche Schattenseiten und Abgründe da sein könnten. Ich habe jedoch gerade in dieser Sendung immer wieder Menschen kennengelernt, die unglaublich grandios sind, tapfer und mutig. Das baut mich wieder auf.

sueddeutsche.de: Ruft nicht ohnehin ein bestimmter Typus Mensch in Ihrer Sendung an?

Domian: Wir sind im WDR die einzige Sendung, die keine klar definierte Zielgruppe hat. Wir haben viele Untersuchungen dazu gemacht. Unsere Zuschauer sind ein seltsames Gemisch von ganz jungen - die Jüngste war elf Jahre - und ganz alten Leuten, bis zu einer 91-Jährigen. Und es geht durch alle Bildungsschichten.

sueddeutsche.de: Was wäre, wenn die Anrufer Ihre Gedanken lesen könnten?

Domian: In der Regel versuche ich so ehrlich wie möglich zu sein - und Position zu beziehen. Das endet ja oftmals in einem herben Schlagaustausch. Aber natürlich bin ich Moderator einer öffentlich-rechtlichen Sendung und kann nicht alles sagen und sagen lassen.

sueddeutsche.de: Zuweilen schalten Sie sogar die Polizei ein.

Domian: Wir haben die Telefonnummern der Kandidaten. Wenn Gefahr im Verzug ist, wenden wir uns natürlich an die Behörden. Es gab beispielsweise einmal einen Jungen, der erklärte, gerade sexuell missbraucht worden zu sein. Oder in einem anderen Fall hatte ein Zivildienstleistender Medikamente vertauscht und den Patienten nur Placebos statt der eigentlichen Arzneien gegeben. Da rufen wir natürlich die Polizei.

sueddeutsche.de: Verfolgen Sie solche Fälle?

Domian: Wir haben so oft mit der Polizei zu tun, da können wir gar nicht alle Fälle verfolgen.

sueddeutsche.de: Was sind die schwierigsten Gespräche?

Domian: Bei denen es um den Tod geht. Man kann nicht helfen, man kann nur zuhören. Ich hatte schon eine Frau, die mir sagte: Mein Mann ist vor einer Stunde gestorben und jetzt liegt er neben mir. Und ich erinnere mich an einen Fall, da war das Kind entführt, vergewaltigt und ermordet worden - damals war selbst Bild erfreulicherweise nicht an die Familie rangekommen. In der Familie konnte man über dieses Ereignis nicht sprechen. Da rief mich die Mutter an. Ein Gespräch, in dem es um derart dramatische Dinge geht, ist natürlich für mich extrem bedrückend. Ich bin nicht Herr Fliege, der das gleich einordnen und bewerten kann.

sueddeutsche.de: Wie viele Jahre halten Sie diese nächtliche Sendung mit derart drastischen Schilderungen noch aus?

Domian: So lange, wie ich mit Spannung und Neugier in die Sendung gehe. Das ist für einen Moderator natürlich eine irre Herausforderung. Ich weiß ja nicht, was sich da zusammenbraut. Und dann hängt es von den Einschaltquoten ab - die sich seit Jahren nach oben entwickeln.

sueddeutsche.de: Domian ist ein etabliertes TV-Format. Könnten Sie sich vorstellen, auch Gäste in eine Sendung einzuladen?

Domian: Es ist noch interessanter, wenn man Menschen vor sich sitzen sieht. Eine Talkshow ist denkbar. Man könnte die Erfahrung und das Image zu nutzen ...

sueddeutsche.de: ... und die Quoten.

Domian: Ja, die natürlich auch.

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