"Günther Jauch" zu Inklusion an Schulen:"Es ist eine Frage der Menschlichkeit"

Josef Kraus Präsident des Deutschen Lehrerverbandes DL Jan Martin Klinge Lehrer Carina Kühne

Günther Jauch (Mitte) mit seinen Gästen (von links): Josef Kraus (Präsident des Deutschen Lehrerverbandes), Jan Martin Klinge (Lehrer), Carina Kühne (lebt mit dem Down-Syndrom), Malu Dreyer (Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, SPD) und Kirsten Ehrhardt (Journalistin, Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom)

(Foto: Imago Stock&People)

Bei Jauch diskutieren Lehrer, Eltern, Schüler und Politiker über den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern. "Wer behindert wen?", wird zur Frage des Abends, die nur jemand aus der Praxis wirklich beantworten kann.

Eine TV-Kritik von Karin Janker

Wenn das Ziel klar ist - weil eine UN-Konvention es vorgibt -, lässt sich höchstens noch über den Weg streiten, der auf dieses Ziel hinführt. Ziel ist nach Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben - also auch der gemeinsame Schulbesuch von behinderten und nicht behinderten Kindern. Aber bloß weil Inklusion das Ziel ist, sei sie deshalb nicht unbedingt der richtige Weg, sagt zum Beispiel Josef Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes am Sonntagabend bei Günther Jauch.

"Mit Down-Syndrom aufs Gymnasium - freie Schulwahl für behinderte Kinder?": Angeregt wurde das Thema der Sendung durch die Geschichte des geistig behinderten Schülers Henri, der von dem Gymnasium abgelehnt wurde, auf das ihn seine Eltern schicken wollten. Über den richtigen Weg in Richtung Inklusion diskutiert Jauch neben dem Lehrerverbands-Präsidenten Kraus auch mit Henris Mutter Kirsten Ehrhardt, der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), dem Gesamtschullehrer Jan-Martin Klinge und mit Carina Kühne, die selbst mit Down-Syndrom lebt.

Zwar tragen die Gäste interessante, individuelle Perspektiven zusammen, eine gewinnbringende Sendung kommt dennoch kaum zustande. Hierfür fehlt es deutlich an Engagement - nicht in der Runde selbst, sondern von Seiten der Jauch-Redaktion. In den kurzen Einspielern werden sowohl persönliche Schicksale als auch Fakten dargestellt, aber letztere hätte man noch besser einordnen können. Gerade bei der emotional geführten Debatte zur Inklusion schlagen Hintergrundinfos vages Halbwissen.

"Inklusion mit Augenmaß"

Als Lehrer-Funktionär Kraus Zweifel äußert an der im Einspieler genannten Summe von 660 Millionen Euro, die die geplanten Inklusionsmaßnahmen angeblich kosten, kann Jauch dem nur ein etwas hilfloses "stammt von der Bertelsmann-Stiftung" entgegensetzen. Und dass in Deutschland etwa 28 Prozent der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, hätte ebenfalls einer Einordnung bedurft: Studien zufolge wird heute bei mehr Schülern beispielsweise eine Sprach- oder Lernstörung festgestellt als noch vor fünf Jahren. Diese gehört ebenfalls zum sonderpädagogischen Förderbedarf, die betroffenen Schüler werden aber häufig weiterhin an einer Regelschule unterrichtet und erhalten dort eine spezielle Förderung. Bildungsforschern zufolge lässt auch dieser Trend den Anteil von förderbedürftigen Schülern an Regelschulen nach oben schnellen - ohne, dass die Zahl der Schüler an den Förderschulen tatsächlich sinkt. In Jauchs Sendung fehlt eine solche Einschätzung.

Als Vertreterin der Politik tut Malu Dreyer der Runde gut, weil sie als Ministerpräsidentin relativ kompetent, wenn auch etwas fern von der Unterrichtspraxis, davon berichtet, wie in ihrem Bundesland das Konzept der Schwerpunktschulen funktioniert. In Rheinland-Pfalz sei man seit zehn Jahren auf dem Weg in Richtung Inklusion und unterrichte an bestimmten Schulen jeweils zehn Prozent behinderte Schüler gemeinsam mit nicht behinderten Kindern. "Inklusion mit Augenmaß", nennt die SPD-Politikerin das und gibt zu bedenken, dass die Gesellschaft mitgenommen werden müsse auf diesen Weg.

Die Weg-Metapher durchzieht die Sendung. Und so darf auch Carina Kühne von ihrem Weg durch das Schulsystem erzählen. 1985 mit dem Down-Syndrom geboren, machte sie auf einer Regelschule ihren Hauptschulabschluss. Dass Klavierspielen zu ihren liebsten Hobbys gehört und sie inzwischen als Schauspielerin vor der Kamera steht, feiert der Einspieler als "vielseitige Begabung - trotz Down-Syndrom" - und diskriminiert damit unbeabsichtigt erneut. Warum sollten Menschen mit Down-Syndrom nicht vielseitig begabt sein?

Wer behindert eigentlich wen?

"Warum geht es uns immer nur um Leistung? Warum empfinden wir behinderte Menschen nicht einfach als Bereicherung?", fragt Henris Mutter Kirsten Ehrhardt und macht damit deutlich, was dahintersteckt, wenn Lehrer oder Eltern befürchten, dass nicht behinderte Kinder durch behinderte Klassenkameraden ausgebremst würden: ein defizitäres Bild von Behinderung, das in weiten Teil unserer Gesellschaft vorherrsche. "Wer behindert eigentlich wen?", wird zur Frage des Abends.

Wie wertvoll in dieser Diskussion die Perspektive eines Praktikers ist, machen die Beiträge von Lehrer Jan-Martin Klinge deutlich. Für ihn ist Inklusion "eine Frage der Menschlichkeit". Klinge unterrichtet eine Inklusionsklasse an einer Gesamtschule. Zwei Kinder mit Glasknochen nehmen an seinem Unterricht teil, er berichtet aber auch von Kollegen, in deren Klassen emotional gestörte oder geistig behinderte Kinder sitzen: "Die können nur noch Ikea-Småland-Kinderbetreuung machen, keinen Unterricht mehr, weil sie überfordert sind."

Zig Bewerbungen und mehrere Praktika

Klinge schlägt sich nicht auf eine Seite. "Ich finde es furchtbar, was Sie sagen", diesen Satz richtet er sowohl an Schuldirektor Kraus, den er für seine Abschiebehaltung kritisiert, als auch an Henris Mutter Kirsten Ehrhardt, die die Herausforderungen für Lehrer unterschätze. "Ich scheitere regelmäßig", bekennt Klinge, und fordert vor allem von der Politik mehr Ressourcen und mehr Geld für die Umsetzung der Inklusion.

Wie sehr Ziel, Weg und Wirklichkeit tatsächlich auseinanderdriften, macht Carina Kühne klar: Obwohl sie gemeinsam mit ihrer Mutter erfolgreich dafür kämpfte, eine Regelschule zu besuchen, und als Klassenbeste in Englisch ihren Hauptschulabschluss gemacht hat, fand die junge Frau keinen Ausbildungsplatz. Zig Bewerbungen habe sie geschrieben, mehrere Praktika in Arztpraxen, Cafés und Kindergärten gemacht, aber keiner bot ihr die Chance auf einen regulären Job. Schließlich arbeitete sie in einem integrativen Supermarkt - sicherlich kein schlechter Job, aber eben nicht das, was sie unter Gleichbehandlung verstand. Und hier scheint das eigentliche Problem kurz auf: Wenn Inklusion sich nur auf Schule bezieht, ist dies nur der halbe Weg. Das Ziel aber liegt davon noch weit entfernt.

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