"Guardian":Im digitalen Sturm

Eigentlich sollte der frühere Chefredakteur Alan Rusbridger künftig der Stiftung vorstehen, die hinter der Zeitung steht. Nun tritt er den Posten doch nicht an - und plötzlich steht sein gesamtes Erbe infrage.

Von Christian Zaschke

20 Jahre lang war Alan Rusbridger Chefredakteur des britischen Guardian, bis er den Posten im Mai des vergangenen Jahres aufgab. Er konnte zurückschauen auf eine Zeit der Erfolge. Das einst sehr britische Blatt mit einer überschaubaren Zielgruppe im linken Milieu hatte sich unter seiner Führung zu einer journalistischen Weltmarke entwickelt. Daher war immer klar, dass Rusbridger der Zeitung erhalten bleiben würde. Geplant war, dass er in diesem Herbst den Vorsitz des Scott Trust übernimmt, der Stiftung, der die Guardian-Mediengruppe (GMG) komplett gehört. Seit Rusbridger Ende vergangener Woche erklärt hat, er werde den Posten nicht antreten, steht plötzlich sein gesamtes Erbe infrage.

Freiwillig hat er die Entscheidung nicht getroffen. Die neue Chefredakteurin Katharine Viner und GMG-Boss David Pemsel hatten sich zuletzt gegen eine Rückkehr des einst gefeierten Chefs ausgesprochen. Rusbridger hatte die Wahl, den offenen Konflikt zu suchen oder die Wünsche der neuen Führungskräfte zu akzeptieren. Er entschied sich für Letzteres und setzte die Mitarbeiter des Blattes in einem offenen Brief davon in Kenntnis. Vieles habe sich seit seinem Rücktritt geändert, schreibt er. Die Branche betreibe Journalismus in einem "digitalen Sturm der Stärke zwölf". Wenn daher Viner und Pemsel mit einem neuen Vorsitzenden der Stiftung planen wollten, verstehe er das.

Der frühere Chef expandierte, jetzt müssen Mitarbeiter gehen

In den vergangenen Monaten war innerhalb der Redaktion intensiv darüber debattiert worden, ob es möglich und richtig wäre, Rusbridgers Strategie weiter zu verfolgen. Er hatte eine Paywall im Internet strikt abgelehnt, weil er den Guardian zu einer Marke mit globaler Reichweite machen wollte. Das ist gelungen, besonders die Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden verschafften dem Blatt maximale Aufmerksamkeit und brachten ihm 2014 den Pulitzerpreis ein. Zudem expandierte Rusbridger, er stellte Hunderte neue Leute ein, unter anderem in den USA und in Australien.

Diese Strategie kostete über die Jahre Hunderte Millionen Euro. Jedes Jahr häufte der Guardian Dutzende Millionen an Verlusten an, die der Scott Trust ausglich. Rusbridgers Kalkül war, dass nur wenige klassische Medientitel sich im digitalen Zeitalter würden behaupten können, und er ging davon aus, dass die gewaltigen Investitionen die Überlebensfähigkeit des Guardian langfristig sichern würden. Eines Tages, so die Annahme, würden die Einnahmen aus dem digitalen Geschäft zu sprudeln beginnen.

Im März gab die GMG bekannt, dass das Unternehmen allein im vergangenen Jahr etwa 75 Millionen Euro Miese gemacht hat. Spätestens zu diesem Zeitpunkt setzte bei der neuen Führung ein Umdenken ein. Sie wollte einen anderen Weg in die Zukunft finden, was zumindest in Teilen eine Abkehr von Rusbridgers Strategie bedeutet. Deshalb erschien er nicht mehr als richtige Besetzung für den Posten an der Spitze der Stiftung.

In den kommenden drei Jahren soll das jährliche Budget von derzeit 340 Millionen Euro um 20 Prozent sinken. Ziel ist, 2019 eine schwarze Null zu schreiben. 250 Mitarbeiter müssen gehen, außerdem sollen 60 frei werdende Stellen nicht neu besetzt werden. 2015 waren bei der GMG mehr als 900 redaktionelle Mitarbeiter angestellt, dazu kommen etwa 700 Mitarbeiter im Verlag. Das dürfte vorerst den Abschied von der Strategie der Expansion bedeuten. Unter Rusbridgers Führung waren seit 2012 rund 480 neue Stellen in Redaktion und Verlag geschaffen worden.

Das Vermögen des Scott Trust beträgt derzeit 932 Millionen Euro. Allerdings ist es allein im vergangenen Jahr durch Investitionen und Schuldenabbau um rund 130 Millionen Euro gesunken. Bei diesem Tempo wäre das Geld der Stiftung in weniger als zehn Jahren aufgebraucht.

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