Britische Medien:Der selbsternannte Feind der "liberalen Eliten" tritt ab

FILE - Paul Dacre To Resign As Editor of The Daily Mail

Paul Dacre, 69, war bis jetzt der dienstälteste britische Chefredakteur.

(Foto: Dan Kitwood)

Paul Dacre, der einflussreichste und meistgehasste britische Zeitungsmacher, geht in Rente. Ohne den Chef der "Daily Mail" wäre das Brexit-Referendum womöglich anders ausgegangen.

Von Alexander Menden

Am 4. November 2016 machte die Daily Mail mit der Schlagzeile "Enemies of the People" auf - "Volksfeinde". Darunter waren drei Porträtfotos abgedruckt. Sie zeigten keine Kriegs- oder Schwerverbrecher, sondern Männer in roten Talaren und altertümlichen Perücken. Es waren drei der angesehensten Richter des Landes: John Thomas, Baron Thomas of Cwmgiedd, Sir Philip Sales und Sir Terence Etherton. Ihren Status als Volksfeinde hatten sich die High Court Judges in den Augen der Daily Mail durch ein Urteil eingehandelt, demzufolge die britische Regierung dem Parlament ein Mitspracherecht einräumen müsse, bevor sie in die Brexit-Verhandlungen eintreten könne. Die Tatsache, dass eine demokratische Instanz die Bedingungen des EU-Ausstiegs prüfen könnte, wurde im dazugehörigen Artikel dann als absolut inakzeptabel gegeißelt.

Diese ganze erste Seite war in ihrem hetzerischen, apodiktischen und selbstgerechten Grundton ein Paradebeispiel für die Handschrift Paul Dacres. Er leitet die Zeitung seit 1992 als Chefredakteur. In dieser Zeit hat er sich seinen Ruf als politisch einflussreichster und zugleich meistgehasster britischer Zeitungsmacher redlich verdient. Der selbsternannte Feind der "liberalen Eliten" und Anwalt des gesunden Volksempfindens hat die Daily Mail zum publizistischen Rammbock reaktionärer Positionen gemacht. Er versteht es wie kein zweiter, die Ressentiments - sei es Fremdenfeindlichkeit, Sozialneid oder als Moral getarnter Voyeurismus - seiner knapp drei Millionen Print- und etwa zwölfeinhalb Millionen Online-Leser zu bedienen und zu verstärken. 2017 verzeichnete das Blatt gemeinsam mit dem Schwestertitel Mail on Sunday Verkaufseinnahmen von 455 Millionen Pfund. Gemeinsam mit der Online-Ausgabe lag der Reingewinn bei 71 Millionen Pfund. Dacre selbst sieht sich als Mann des Volkes. Seiner Ansicht nach muss ein Chefredakteur Familienvater sein - "sonst versteht man nicht, was es heißt, ein Mensch zu sein".

Dass Dacre, der mit Abstand dienstälteste britische Chefredakteur, jetzt angekündigt hat, er werde noch vor seinem 70. Geburtstag im November sein Amt als Chefredakteur aufgeben, ist bemerkenswert. Der Herausgeber Lord Rothermere, der ihn mit einem Jahressalär von etwa zweieinhalb Millionen Pfund zum bestbezahlten Zeitungschef der Insel machte, hat Dacre in einer Verlautbarung als "größten Fleet-Street-Chef seiner Generation" gepriesen, als Helden des Londoner Medienhauptquartiers.

Dacre hatte großen Einfluss auf das Brexit-Referendum

Dacre wird in beratender Position beim Verlag bleiben, doch nach 26 Jahren, in denen er sechs Premierminister hat kommen und gehen sehen, wird eine aktive Karriere zu Ende gehen, die Beobachter je nach Sichtweise als Ära brillanten Populärjournalismus oder als toxische publizistische Schreckensherrschaft betrachten. Nick Davies, lange Zeit investigativer Reporter beim Guardian, twitterte nach der Verlautbarung: "Nur wenige Menschen haben seit 1945 dem Vereinigten Königreich mehr Schaden zugefügt als Paul Dacre von der Daily Mail - er verbrachte Jahre damit, Unwahrheiten und Gehässigkeit in den breiten öffentlichen Diskurs zu pumpen."

Gegen die Mail, so lautet eine Binsenweisheit in Westminster, kann man keine Politik machen. Dacre war ein großer Fan von Margaret Thatcher und hat auch Theresa May bisher unterstützt, was nicht zuletzt auf die harte Einwanderungspolitik zurückzuführen ist, die sie als Innenministerin pflegte. Was die jüngere Vergangenheit angeht, kann besonders Dacres Einfluss auf den Ausgang des Referendums über den EU-Ausstieg nicht genug betont werden. Schon in den Monaten vor dem Volksentscheid hatte die Mail David Cameron, einen nach Ansicht zu liberalen Tory-Premier, für seine vermeintlich ungenügenden Bemühungen um EU-Sonderregelungen für Großbritannien torpediert. Auch ein von Cameron einberufenes Treffen, bei dem er Dacre dem Vernehmen nach bat, nicht so hart mit ihm ins Gericht zu gehen, half nichts: Am nächsten Tag nannte die Mail seinen Kurs "The great Delusion" ("Die große Wahnvorstellung"). Das Blatt ist das zentrale Verlautbarungsorgan des harten Brexit; es erlebt darin eine Apotheose des von Dacre seit seinem Amtsantritt gepflegten Kampagnenstils.

Auf Witze sagt er angeblich unbewegten Gesichts: "Das war witzig."

Den hat er für unterschiedlichste Zwecke zum Einsatz gebracht. Berühmt wurde 1997 die Schlagzeile "Mörder!" über den Bildern von fünf Männern, die den schwarzen Teenager Stephen Lawrence umgebracht hatten. Der Hintergrund dieses persönlichen Engagements ist interessant: Paul Dacre kannte Lawrences Vater, der in seinem Haus Malerarbeiten verrichtet hatte. Angesichts seines vehementen Eintretens für "normale, hart arbeitenden Leute" ist es bemerkenswert, wie sehr sich Dacre prinzipiell von der Alltagsrealität zu isolieren scheint. Er wird allmorgendlich in einer Limousine ins Büro chauffiert, wo er bis zu 18 Stunden verbringt. In der Regel wird ihm sein Mittagessen auf silbernem Geschirr am Schreibtisch serviert. Laut Adrian Addison, Autor des Buchs "Mail Men", kauft er niemals selbst ein und nimmt keine öffentlichen Verkehrsmittel.

Der gebürtige Londoner Dacre ist selbst Sohn eines Journalisten, der sein Leben lang für die Showbusiness-Seiten des Sunday Express arbeitete. Es sei von Jugend an sein "glühender Wunsch" gewesen, Chefredakteur zu werden, hat Dacre in einem seiner seltenen Interviews einmal gesagt. Er studierte Englisch an der Universität von Leeds und arbeitete in den Siebzigerjahren in den USA, wo sein Glaube an individuelles Unternehmertum und die heilende Kraft der Märkte gestärkt wurde. Nach seiner Rückkehr arbeitete er für die Daily Mail, leitete dann den Evening Standard und widerstand 1992 einem Angebot von Rupert Murdochs Times, um den Chefposten bei der Mail zu übernehmen.

Die Redaktionssitzungen unter Dacre sollen "feudaler Hofhaltung" geglichen haben

Er selbst hat sich als "harten Hund, der vorneweg marschiert" beschrieben. Über seinen Führungsstil gibt es zahlreiche Anekdoten - so lacht er angebliche nie, sondern sagt nach besonders lustigen Bemerkungen nur unbewegten Gesichts: "Das war witzig." Die Atmosphäre in der Redaktion in Kensington wird von Addison als eine Mischung aus "Unsicherheit, Gehässigkeit und Angst" beschrieben. Die Redaktionssitzungen glichen "feudaler Hofhaltung". Und Dacre, der darauf besteht, die Buchstaben auch noch des mildesten Schimpfwortes im Blatt durch Sternchen zu ersetzen, flucht demnach in einem fort.

Die Daily Mail ist unter Paul Dacre ein Spiegel seiner Emotionen und politischen Überzeugungen geworden, seines tiefen Misstrauens gegenüber jeder Art von Neuerung, wie Gleichstellung von Frauen oder Rechte für Homosexuelle, und seines Bewusstseins, sich immer im Recht zu befinden. Sein Nachfolger soll anscheinend bereits in den nächsten Tagen bekanntgegeben werden. Wer auch immer ihm nachfolgt - sie oder er wird ein in jeder Hinsicht schweres Erbe antreten.

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