Großbritannien:Reizende Nasenflügel

Wie groß ist der Schmachtfaktor in der BBC-Serie "Krieg und Frieden"? Wer wird der neue Mr. Darcy? Über eine kuriose britische Debatte.

Von Alexander Menden

Alles begann mit einem feuchten Oberteil. Das klitschnasse, durchscheinende Hemd an seinem Oberkörper klebend, entstieg Colin Firth als Mr. Darcy 1995 einem See. Das machte den englischen Schauspieler, der sich bis dahin nach eigenem Bekunden nie als sehr sexy empfunden hatte, schlagartig zum Sexsymbol. Die Szene aus der BBC-Adaption von Jane Austens Stolz und Vorurteil gilt als erotischer Meilenstein der britischen Fernsehgeschichte. Selbst als Oscargewinner ist Colin Firth den Ruf als "der Mann im nassen Hemd" nie mehr losgeworden. Es gibt sogar eine "Mr. Darcy Wet Shirt Appreciation Society". Und für die Komödie Bridget Jones - Schokolade zum Frühstück musste Firth noch einmal im Hemd ins Wasser gehen, nur weil das eine der Lieblingsfantasien der Drehbuchautorin Helen Fielding war (seine Figur hieß natürlich auch hier Mr. Darcy).

Es vergingen zwei Jahrzehnte, bis die BBC eine Literaturverfilmung von ähnlich wirkmächtiger männlicher Erotik zustande brachte: Vergangenes Jahr durfte der Ire Aidan Turner sich als Ross Poldark in der TV-Fassung von Winston Grahams Poldark-Romanen obenrum ganz frei machen und derart entblößt in einem sommerlichen Feld die Sense schwingen. Aber an den britischen Reaktionen auf Turners eingeölten Torso zeigte sich, dass die Zeiten politisch korrekter geworden sind. Während viele Zuschauer, vor allem weibliche, die Szene als den "Sexy-Darcy-Moment" der nächsten Generation feierten, kritisierten andere die Degradierung Turners zum Sixpack-Sexobjekt. "Die Vergegenständlichung von Männern, besonders von männlichen Schauspielern in historischen Fernseh-Dramen, ist die neueste Sorge der modernen Frau", bemerkte der Independent.

Großbritannien: "Armeen wollüstiger Literatur-Fans": BBC-Seriendarsteller Aidan Turner in Poldark.

"Armeen wollüstiger Literatur-Fans": BBC-Seriendarsteller Aidan Turner in Poldark.

(Foto: BBC)

Eine Sorge, die sich zu verselbständigen und nun, zumindest von den britischen Medien, automatisch auf jede neue BBC-Literaturverfilmung ausgeweitet zu werden droht. Jüngstes Ziel öffentlichen Verlangens und vermeintlichen Ärgers ist die luxuriös ausgestattete BBC-Version von Leo Tolstois Krieg und Frieden - genauer gesagt James Norton als schöner Prince Andrei. Gleich nach der Ausstrahlung der ersten von sechs Folgen am vorigen Sonntag fragte die Daily Mail in der für sie typischen Mischung aus Lüsternheit und puritanischer Entrüstung: "Eskapismus - oder sexistische Heuchelei? Erst kam Poldark, jetzt schmachten Frauen unverhohlen den Traumtyp im neuen, sexualisierten Tolstoi an." Die Kolumnistin Libby Purves berichtet von einer Freundin, deren Schwester während einer Einstellung, in der Andrei in einem Feld steht, gerufen habe: "Hol deine Sense raus, Norton!" "Als würden wir", so Purves, "durch Zahlung der Fernsehlizenz das Recht auf einen entblößten männlichen Torso pro Stunde erwerben."

Es gab anscheinend noch andere Streitpunkte, darunter den, dass die Schauspieler schwer zu verstehen seien, weil sie nuschelten. Und jenen, es sei "verwirrend", dass die Schauspielerin Tuppence Middleton zugleich in Krieg und Frieden und in der ebenfalls von der BBC ausgestrahlten Serie Dickensian auftrete. Dass der Ire Stephen Rea ebenfalls in beiden Produktionen eine Rolle hat, scheint hingegen keinen zu stören. Derweil gehe die "verzweifelte Suche" nach dem "Mr-Darcy-nasses-Hemd/Poldark-mit-Sense-Moment weiter", so Julia Raeside im Guardian, "um die rasenden Armeen wollüstiger Literatur-Fans zu befriedigen." Leider sei bisher James Nortons einzige unsittliche Entblößung die seiner "ziemlich unverschämten Nasenflügel" gewesen.

Großbritannien: James Norton als Prinz Andrei in Krieg und Frieden.

James Norton als Prinz Andrei in Krieg und Frieden.

(Foto: BBC)

Alle zitierten Reaktionen fanden übrigens auf dem Schlachtfeld der sozialen Netzwerke statt. Die BBC hat nach eigenem Bekunden keine einzige offizielle Beschwerde über Krieg und Frieden bekommen. Und angesichts der Zuschauerzahlen von 6,7 Millionen muss sich der Sender selbst auch nicht beschweren.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: