Fußballtaktik:Mehr als Gras und Schweiß

"Doppel-Sechs" oder "flache Vier": Lange Zeit war Fußballtaktik etwas kurios Unerklärtes und dadurch elitär. Doch inzwischen haben auch viele Fußball-Freaks taktischen Sachverstand - ihre Blogs werden immer stärker wahrgenommen.

Marco Maurer

Es war im Dezember 1998, als Ralf Rangnick vom ZDF ins Sportstudio eingeladen worden war und an der Magnettafel eine noch kaum bekannte Verteidigungsstrategie erklärte: die Viererkette. Im Land der Vorstopper und Liberos zählte Rangnick über Nacht zu den häufig zitierten Trainern. Bild machte ihn umgehend zum "Fußballprofessor" - wobei nicht klar war, ob aus Respekt oder Spott.

WM 2010 - Südafrika - Uruguay

Ballett oder analytische Geometrie? Für dieses Foul gegen Suarez wurde Südafrikas Torhüter Khune jedenfalls bei der WM 2010 vom Platz gestellt.

(Foto: dpa)

An der Basis war die Entrüstung über den schwäbischen Fachmann zunächst groß. Taktik war bis dahin etwas für: "hinter verschlossenen Türen", kurios unerklärt und dadurch elitär. Zwar gab es bereits Videostudium, und ein anderer Professor, Professor Liesen, hatte 1990 die Laktatmessung populär gemacht. Aber taktisch war Deutschland 1998 auf Erich-Ribbeck-Niveau. Der schlechteste deutsche Bundestrainer ließ die Nationalelf bei der Europameisterschaft 2000 mit Libero antreten und scheiterte grandios. Portugals B-Elf kickte moderner.

Was mit Rangnick Standard wurde in der TV-Berichterstattung, das taktische Speed-Seminar, gipfelte 2006 in einem ZDF-Taktik-Diskurs des jungen Trainers Jürgen Klopp während der Weltmeisterschaft in Deutschland. Klopp, früher für Mainz verantwortlich und inzwischen mit den Dortmundern Bundesliga-Meister, lehrte auf dem Touchscreen Begriffe wie "Doppel-Sechs" oder "flache Vier". Thomas Tuchel, sein Nachfolger in Mainz, führte den "Matchplan" ein.

Fußball wurde durch die neue Trainergeneration zum Telekolleg. Den letzten Versuch, die alten Werte hochzuhalten, unternahm Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandsvorsitzender beim FC Bayern München, 2007. "Fußball ist keine Mathematik", kommentierte Rummenigge das Prinzip von Ottmar Hitzfeld, in ständig wechselnden Aufstellungen in den unterschiedlichen Klub-Wettbewerben spielen zu lassen. Hitzfeld konterte höflich: "Ich hoffe, dass ich das Fußball-Einmaleins kann."

Aus heutiger Sicht sind das niedliche Verwerfungen. Der Fußball ist einerseits Volkssport geblieben, andererseits wurde er Forschungsfeld. Es gibt Unternehmen, die erfassen im Stadion jeden Laufweg, jeden Pass, jedes Dribbling, jede Flanke oder jeden Eckball elektronisch.

Statistisches Material über das iPhone

Die Daten sind Geschäftsmodell und Arbeitsgrundlage: Jeder Trainer nutzt heute das statistische Material. Und jeder andere kann sehr viel davon kaufen: Es gibt auch eine iPhone-App mit den entsprechenden Zahlen aus Champions-League-Spielen, sie heißt TotalFootball.

Volkssport und Forschungsfeld

Historisch betrachtet war Taktik früher eher schlicht bis gewieft. Wissenschaftlicher Fortschritt, ständige Modernisierung der Trainingslehre und ein verändertes Selbstverständnis der Trainer haben sie transparent gemacht und damit demokratisiert. Das Internet wird dabei zum öffentlichen Hörsaal.

Georg Pichler ist Gründer des österreichischen Blogs ballverliebt.eu, Tobias Escher hat in Deutschland taktikguru.net entwickelt, seit kurzem unter spielverlagerung.de zu finden. Beide Blogs beschäftigen sich fast ausschließlich mit Fußballtaktik, und sie beziehen sich auf das Leitmedium der Taktikszene: auf zonalmarking.net.

Die Plattform wurde im Januar 2010 in England gegründet und vom Start weg Marktführer. Die britische Zeitung Guardian erklärte den Blog zur Taktikseite des Jahres 2010. Es kommt vor, dass ein Premier-League-Trainer den Gründer des Blogs, Michael Cox, anruft, um sich auszutauschen. Selbst der eher auf die Kräfte der Motivation vertrauende Jürgen Klinsmann - gerade wurde er als Coach der USA engagiert - schwärmt auf seiner Homepage von Cox. "In bekannter Manier arbeitet zonalmarking.net jedes der aufgeführten Spiele im Detail nach taktischen Gesichtspunkten auf", informiert der Deutsche Fußball-Bund (DFB) und empfiehlt die Seite.

Cox ist übrigens kein Trainer, kein Journalist, sondern wohl nur Fußball-Freak. "Die meisten nennen uns Nerds", sagt "spielverlagerung.de"-Gründer Escher, der an der Universität Hannover Sport studiert. Auf seinem Blog - wie beim Engländer Cox und beim Österreicher Pichler - werden die Topspiele der nationalen Ligen ausgewertet, dazu internationale Begegnungen und Länderspiele. Cox sitzt während eines Spiels vor einer Magnettafel, verschiebt die Positionen hin und her, bis er findet, das Spiel ist graphisch stimmig wiedergegeben.

Wegbereiter für die Blogs war das Buch Inverting the Pyramid (2008) von Jonathan Wilson. Der Journalist beschreibt in dem Standardwerk beispielsweise die Vorteile der 4-3-3-Ordnung gegenüber dem 4-4-2-System. Wilson glückte ein Bestseller. Nerds und Fans erkannten, dass sie mit ihrem leidenschaftlichen Expertentum an der Spitze einer Bewegung standen. "Ich fand weder im Fernsehen noch in den Zeitungen etwas über taktische Feinheiten", sagt Cox.

Auch Escher fiel nach der WM 2010 auf, dass eine Nische in den deutschen Medien unbesetzt war. "Es geht zu viel um das Drumherum, weniger um die Sache." Ihn interessiert weniger ein Hausbesuch von Bild bei Kevin Kuranyi in Moskau, wo der ehemalige Nationalstürmer kickt.

Bezüge zur analytischen Geometrie

Nische will wissen, "welche Mechanismen über Sieg und Niederlage entscheiden". Spiele werden korrekt, umfassend und quasi-philosophisch ausgewertet. Verblüffend ist dabei, dass die Analysen äußerst detailliert schon bald nach dem Abpfiff online stehen. Das gängige Schema ist ein Diagramm: Pfeile kennzeichnen Laufwege, Spieler werden als einfache Kreise abgebildet. Das System Fußball wird hier auf Vektoren reduziert, mit Bezügen zur analytischen Geometrie also.

Ungefähr 20.000 Besucher (täglich) meldet "zonalmarking.net", "ballverliebt.eu" soll bis zu 6000 haben, "spielverlagerung.de" um 1000. Und das Interesse an den Blogs steigt, auch, weil die klassischen Medien in Presse, Funk und Fernsehen das Randgebiet nicht erschließen können oder nur gelegentlich, aus aktuellem Anlass. Escher sagt: "Wir werden in den Mainstream-Medien keine Revolution lostreten, aber immer stärker wahrgenommen."

So trug das Fußball-Magazin 11 Freunde dem Leiter der DFB-Fußball-Lehrerausbildung, Frank Wormuth, eine monatlichen Taktikkolumne an. Die österreichische Tageszeitung Standard führt mittlerweile einen eigenen Taktik-Blog (standard.situation), er wird von einem der "ballverliebt.eu"-Betreiner betreut, der als Online-Redakteur praktischerweise beim Standard arbeitet. "In den Weiten des Webs wird es immer jemanden geben", sagt Tobias Escher, "der die Taktik eines Spiels angemessen entziffern wird."

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