Freiheit im russischen Internet:Danke, Väterchen

Besuchen Sie das russische Internet, solange es noch da ist: Mit dem Geld der Oligarchen haben Kreative mitten im autoritären Staat ein einzigartiges Medium geschaffen. Jetzt soll es mit neuen Gesetzen in die Schranken gewiesen werden. Ein Nachruf zu Lebzeiten.

Julian Hans

Auf der Suche nach Trends in den Osten gucken, ist noch immer eher ungewohnt, aber es könnte sich lohnen. Denn dass in den vergangenen Jahren ausgerechnet in Russland eine Medienlandschaft entstanden ist, so vielfältig, lebendig und kreativ wie kaum an einem anderen Ort, ist hierzulande fast unbemerkt geblieben. Ausgerechnet in Russland, ein Land, das man im Westen doch vor allem mit gegängelten Medien, gleichgeschaltetem Fernsehen und der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja verbindet. Das ist die traurige Seite der Wahrheit. Die erfreuliche blüht im Internet, immerhin, in der Nische, in die sich die Russen in den vergangenen Jahren zurückgezogen haben, gelangweilt vom immer gleichen Brei aus dem Staatsfernsehen, den Bildern von Ministern, die Fabriken besuchen, Präsident und Premier beim Badminton, Dmitrij Medwedjew auf einem Mähdrescher.

Freiheit im russischen Internet: Minister bei Fabrikbesuchen, der Premier beim Badminton oder Präsident Putin, der zum Volk spricht: Das Staats-TV hat die Nische im Netz wachsen lassen.

Minister bei Fabrikbesuchen, der Premier beim Badminton oder Präsident Putin, der zum Volk spricht: Das Staats-TV hat die Nische im Netz wachsen lassen.

(Foto: Getty)

Lange hat der Staat die User und Blogger in Ruhe gelassen, es war ja eine Nische und Dmitrij Medwedjew gab sich selbst gern modern, mit iPad auf dem Schoß und Twitter-Account. Doch seit den Massenprotesten in diesem Winter ist klar, dass das Internet auch in Russland politische Wucht entfaltet. Es unter staatliche Kontrolle zu bringen, sei wie der Versuch, Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken, hat Alexej Wenediktow einmal gesagt, der angesehene Chef von Radio Echo Moskwy.

Das war allerdings vor der Amtsübernahme von Wladimir Putin, auf die in rascher Folge eine Reihe von Gesetzesnovellen folgte, die die zunehmend selbstbewusste Zivilgesellschaft wieder in die Schranken weisen soll.

Weg vom "Zombie-Kasten"

Ende 2011 hat Russland Deutschland als das Land mit den meisten Internetnutzern in Europa überholt. 53 Millionen sind es in Russland, 51 Millionen hier. Der wichtigste Unterschied aber liegt im Wachstum: Bei uns legt das Netz nur noch zwei Prozent im Jahr zu, in Russland 14 Prozent. Die Menschen wenden sich radikal vom Fernseher ab, der im Volksmund "Sombi-Jaschtschik", "Zombie-Kasten" heißt.

In den vergangenen Jahren ist der Anteil junger Fernsehzuschauer dramatisch eingebrochen. Bezogen 2007 noch 13 Prozent der Russen politische Nachrichten aus dem Netz, waren es 2011 nach einer Umfrage des Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum bereits 31 Prozent. Im internationalen Schnitt verbringt ein Nutzer im Monat etwa fünf Stunden mit dem Lesen von Blogs; in Russland sind es durchschnittlich zehn Stunden.

Dass das Internet ausgerechnet in Russland so einen Boom erlebt, ist das Ergebnis einer einmaligen Kombination von Stärken und Schwächen: Im größten Flächenland der Erde, das sich über neun Zeitzonen erstreckt, war es früher kaum möglich, einen einheitlichen Kommunikationsraum herzustellen. Wenn in Moskau die beste Sendezeit für eine Talkrunde wäre, schläft Wladiwostok längst.

Durch die nach wie vor schlechte Logistik und unzuverlässige Post grenzt es an einen Glücksfall, wenn man in der Provinz eine gute Zeitung bekommt. Der Bedarf an einem Medium, das den Raum überwindet und bei dem es keine Rolle spielt, wann man es nutzt, war enorm. Und: Aus dem Erbe der Sowjetunion kamen die Spezialisten, die das Medium zu Blüte bringen konnten: hervorragende Ingenieure und Programmierer, fähige Texter und Designer.

Kreative im Dienste finsterer Mächte

Zum Beispiel Leonid Berschidskij, 40, ein unruhiger Mann mit Halbglatze, der für Newsweek arbeitete, später einen Posten als Chefredakteur der Tageszeitung Wedomosti hinschmiss und 2009 das Portal Slon.ru für Politik und Wirtschaft gründete. Oder Natalia Sindeewa, 41, ehemals Produzentin beim Rundfunk, verheiratet mit dem Bankier Alexander Winokurow, gründete den Kanal TV Doschd the optimistic channel, empfangbar im Netz und über Satellit. Das Motto: "Der Sender für die, denen nicht alles wurscht ist." Oder Einzelkämpfer wie Rustjem Adagamow, der seit 2008 auf der Plattform Livejournal unter dem Pseudonym Drugoi (der andere) über Politik bloggt, inzwischen 78 000 Leser erreicht und auch nach Aussagen russischer Verleger eine echte Konkurrenz für etablierte Zeitungen darstellt.

Noch heute wirkt die Erfahrung der russischen Avantgarde und der Agitprop-Bewegung seit den zwanziger Jahren nach. Mit klaren Botschaften und einer gekonnten Verbindung von Bild und Text Massen zu erreichen und zu bewegen, war in der Sowjetunion die tägliche Aufgabe Zigtausender Grafiker, Regisseure, Plakatkünstler. Mit der Auflösung der Sowjetunion war vielleicht die Ideologie nichts mehr wert, aber die Fähigkeiten nach wie vor vorhanden. Die bestens ausgebildeten Handwerker mussten sich neue Aufgaben suchen. Aus Propaganda wurde von heute auf morgen unter kapitalistischen Vorzeichen neurussisch "piar": PR.

Es ist kein Zufall, dass zwei der populärsten Romane der Nachwende-Zeit davon handeln, wie junge Kreative ihre Talente in die Dienste finsterer Mächte stellen. Im 1999 erschienenen Roman Generation P von Viktor Pelewin animiert ein PR-Agent Politiker und politische Ereignisse am Computer - als Scheinwelt für das Volk. Der ukrainische Autor Andrej Kurkow erzählt in Picknick auf dem Eis von einem Autor, der gutes Geld mit Nachrufen für Menschen verdient, die noch gar nicht gestorben sind, aber kurz nach Fertigstellung der Texte ums Leben kommen.

Im Russland der anarchischen 90er Jahre gab es für kurze Zeit mal ein buntes und spannendes Fernsehprogramm. Hoch professionell und weit mutiger als das, was wir in Deutschland kennen. Dass die unterschiedlichen Sender zugleich als Waffe im Machtkampf zwischen unterschiedlichen Oligarchen genutzt wurden, nahmen die Zuschauer hin; wer einigermaßen wusste, wem welcher Kanal gehört, verstand, was gespielt wurde, und bisweilen ergötzte man sich auch an den Schlachten. Aber seit der ersten Ernennung Putins zum Präsidenten im Jahr 2000, als die Sender wieder unter Kontrolle des Staates gebracht wurden, ist die Langeweile zurückgekehrt.

An ihre Stelle ist das Internet getreten. Sowohl als Investment für die Oligarchen, als auch als Spielwiese für die Kreativen und Informationsquelle für die Nutzer. Viele Websites können nur dank der großzügigen Unterstützung durch reiche Investoren existieren. So ist die beliebteste Blog-Plattform Livejournal im Besitz des Milliardärs Alexander Mamut, der sein Vermögen im Bankgeschäft gemacht hat. Die staatliche Sberbank hält 25 Prozent der Anteile an der Suchmaschine Yandex, die besser mit der russischen Grammatik zurecht kommt als Google, und mit 19 Millionen Besuchern täglich mehr Russen erreicht als der größte Fernsehkanal.

Den Sieg vor allem diesem Opa zu verdanken

Die Kommunikation in der Nische gab es schon zu Sowjetzeiten. Auf der Arbeit musste man die Fassade wahren, Kaffees oder Restaurants gab es nur wenige und ein falsches Wort in der Öffentlichkeit konnte gefährlich werden. Wer reden wollte, traf sich zuhause in der Küche beim Tee mit Freunden, denen er vertraute. An diesem geschützten Ort wurde diskutiert, was man eigentlich von den Verlautbarungen des Politbüros hielt, hier wurden Tipps ausgetauscht, wo man gerade Jeans bekommen konnte. Hier wurde Samisdat ausgetauscht und vorgelesen, Werke verbotener Schriftsteller, die aus dem Ausland eingeschmuggelt oder Seite für Seite auf der Schreibmaschine abgetippt worden waren, um sie kapitelweise weiter zu geben.

Je stärker ein Staat gleichgeschaltet ist, desto größere Sprengkraft entfalten schon kleinste Anspielungen, die sofort für alle verständlich sind. Spott ist dann das erste Ventil, mit dem sich eine Gesellschaft Luft macht. Da genügt es oft, eine offizielle Parole mit einem anderen Bild zu unterlegen. Spasibo dedu za pobedu, danke, Väterchen, für den Sieg! Ein Reim, mit dem jedes Jahr zum Tag des Sieges über Hitlerdeutschland an die Verdienste und die Entbehrungen der Frontsoldaten erinnert wird.

Als ein Blogger den Spruch nach der manipulierten Parlamentswahl unter ein Foto des alten und bärtigen obersten Wahlleiters Wladimir Tschurow schrieb, verstand jeder die Anspielung: Putin und Einiges Russland hatten ihren Sieg bei der Wahl vor allem diesem Opa zu verdanken, den Medwedjew vor der Wahl einen "Zauberer" genannt hatte und der in den Augen der Protestierenden so an den Zahlen gedreht hatte, dass Einiges Russland doch noch ihre absolute Mehrheit in der Staatsduma bekommen hat.

Die schlägt jetzt zurück. Im Eiltempo haben die Parlamentarier noch vor der Sommerpause eine Reihe von Gesetzen zum Internet verabschiedet, angeblich zum Schutz vor Kinderpornografie. Sie zwingen Internetanbieter etwa dazu, auf Anweisung von Behörden Websites zu blockieren. Der Versuch, die Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken, hat begonnen.

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