Fiction-Podcasts:Diese Podcasts sind die besseren Serien

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Schauspieler verzichten auf ihre Gagen, um bei den neuen Serien dabei zu sein, etwa David Schwimmer. (Foto: Adrien Veczan/Reuters)

Große Geschichten brauchen große Bilder? Stimmt nicht. Fiktionale Podcast-Serien sind die Wiedergeburt des Hörspiels im Geiste der HBO-Serie.

Von Julian Dörr

Alles beginnt mit einem Omelett. Eine Raststätte, irgendwo in den USA. Am Tresen eines Diners sitzt ein Mann und isst. Gelbe Fingernägel, scharfe Zähne, ein schmutziges Poloshirt mit dem Schriftzug "Thistle" auf der Brust. Etwas Unmenschliches liegt in seinem Gesicht, in seinen Bewegungen, in der Art und Weise, wie er sein Omelett verschlingt.

So beschreibt es die namenlose Erzählerin des Podcasts Alice Isn't Dead. Und so beginnt ihre Geschichte. Eine Geschichte, die schon nach wenigen Minuten eine Sogkraft entfaltet, wie sie sonst nur die spannendsten TV-Serien entwickeln können. Was hat es mit dieser unheimlichen Gestalt auf sich? Und was mit der titelgebenden Figur Alice, der verschollenen Ehefrau der Erzählerin?

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Diese Fragen verhandelt der Podcast Alice Isn't Dead in seiner ersten Staffel. Richtig gelesen: Staffel. Denn Alice Isn't Dead ist eine Hörspielserie. Eine große Geschichte von düsteren Highways, von der Einsamkeit der Straße und dem Horror, der in der ungeheuren Weite der Vereinigten Staaten lauert - erzählt in kurzen, süchtig machenden Episoden.

Ein neuer Trend bricht die Vorherrschaft der True-Crime-Formate: Fiction-Podcasts

Nun ist das serielle Erzählen nach dem Vorbild erfolgreicher US-Serien wie Breaking Bad, House of Cards oder The Walking Dead die beliebteste und prägendste Erzählform unserer Zeit. Die typischen Merkmale - die komplexe und detailversessene narrative Struktur, der epische Spannungsbogen, der die Geschichte von Cliffhanger zu Cliffhanger treibt - werden von unzähligen Produktionen verwendet und von manchen perfektioniert.

Podcasts zum Anhören haben die Idee des seriellen Erzählens bisher nur auf dokumentarische Formate angewandt. Bekanntestes Beispiel: die Podcast-Serie Serial der US-amerikanischen Journalistin Sarah Koenig. In jeder Staffel widmet sie sich einer Person und ihrer Geschichte. Sie recherchiert, sie interviewt, sie prüft Fakten. Am Ende steht keine Reportage oder Fernsehdokumentation, sondern eine Reihe von Podcast-Episoden, die sich zu einer großen, wahren Erzählung fügen. Bislang hat Koenig so die Geschichten von Adnan Syed, der für den Mord an seiner Highschool-Freundin verurteilt wurde, und von US-Soldat Bowe Bergdahl, der fünf Jahre in Taliban-Gefangschaft verbrachte, aufgearbeitet.

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Podcasts wie Serial und seine vielen Nachfolger erzählen wahre Geschichten, oft wahre Verbrechen (True Crime), mit den Mitteln der Serie. Alice Isn't Dead holt diese Technik nun dorthin zurück, wo sie einst entstand: in die Welt der Fiktion. Und die Geschichte von der Suche einer namenlosen Truckfahrerin nach ihrer verschollenen Ehefrau steht nicht alleine da. Sie ist Teil eines neuen Trends, der sich in den USA gerade daran macht, die Vorherrschaft der True-Crime-Formate zu brechen. Dieser Trend heißt: Fiction-Podcasts.

Hinter diesem Begriff steckt zunächst einmal nichts anderes als das gute alte Hörspiel. Eine erfundene Geschichte, erzählt über Stimmen, Geräusche und Musik. Doch die Dramaturgie ist hier nicht auf eine einzige Folge ausgerichtet, nicht einmal auf eine Reihe von Folgen, sondern gleich auf mehrere Staffeln. Es ist die Wiedergeburt des Hörspiels aus dem Geiste der HBO-Serie. Aber kann das funktionieren? So ganz ohne Bilder von massenvernichtenden Drachen, von unheimlichen Südstaaten-Sümpfen und von stolpernden Zombie-Horden? Es funktioniert sogar sehr gut. Es ist bemerkenswert, wie Alice Isn't Dead und andere fiktionale Podcasts mit den geringsten Mittel eine Spannung aufbauen, die mit den Erzählbögen der großen Fernsehserien mithalten kann.

In Alice Isn't Dead driftet die namenlose Erzählerin in einem Truck durch das Land. Auf ihren Fersen: der "Thistle-Man", ein Serienmörder, ein Menschenfresser, ein Charakter wie aus einem Roman von Stephen King. Der einzige Vertraute der namenlosen Erzählerin: ihr Aufnahmegerät, in das sie ihre Erlebnisse spricht. Diese Aufnahmen bilden das narrative Gerüst, sie allein transportieren die Geschichte.

Fiction-Podcasts kosten Überwindung. Wenn man sich aber an die im ersten Moment tatsächlich befremdliche Idee gewöhnt hat, eine Serie zu hören, wird man belohnt. Fiction-Podcasts führen das serielle Erzählen zu neuer Meisterschaft. Denn sie können Vorstellungen von Raum, Zeit und Identität erschüttern - viel stärker und grundlegender als das einem Bildmedium je möglich wäre.

Diese Podcasts irritieren, verstören - und sie befreien

Der Podcast Homecoming zum Beispiel erzählt die Geschichte eines geheimen Forschungsprojekts, das US-amerikanische Kriegsheimkehrer betreut. Dabei verzichtet die Serie auf eine ordnende und leitende Erzählstimme. Homecoming verlässt sich ganz und gar auf Soundschnipsel, Telefongespräche und aufgezeichnete Therapieprotokolle. Und auf die Stimmen seiner berühmten Sprecher. Die Hollywood-Stars Oscar Isaac, Catherine Keener und David Schwimmer verzichteten sogar auf ihre Gage, um an dem Projekt teilzuhaben.

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Fiktionale Podcast-Serien sind nicht mehr nur für Genre-Fans interessant, frühere Produktionen richteten sich an Liebhaber von Science-Fiction und Horror. Große Podcast-Netzwerke wie Gimlet, Panoply oder Midroll bauen deshalb ihre Fiction-Abteilungen aus. Night Vale Presents, die Macher von Alice Isn't Dead und Welcome to Night Vale, eine der langlebigsten Podcast-Serien, haben im vergangenen Jahr zwei weitere fiktionale Formate gestartet: Within the Wires, eine Geschichte erzählt durch Entspannungskassetten, und The Orbiting Human Circus (of the Air), eine bizarre Radio-Varietéshow. Alle diese Podcasts finanzieren sich über Werbung und können kostenlos im Netz angehört und heruntergeladen werden.

Auch in Deutschland sind erste fiktionale Podcast-Serien geplant. Nachdem man beim NDR in den vergangen Jahren Erfahrung mit der seriellen Aufarbeitung dokumentarischer Stoffe gesammelt hat ( Täter unbekannt, Der talentierte Mr. Vossen und gerade aktuell: Bilals Weg in den Terror), arbeitet der Sender derzeit an zwei Serienstoffen - einmal basierend auf einer Literaturvorlage und einmal ein Originalstoff. Die beiden Serien sollen spätestens Anfang 2018 starten.

Natürlich steckt in Fiction-Podcasts nicht das kommerzielle Potenzial einer TV-Serie, aber sie entwickeln das Erzählen weiter. Die neuen Hörspielserien irritieren bisweilen, sie verstören, sie spielen mit Gewohnheiten. Aber indem sie ihre Hörer herausfordern und manchmal auch überfordern, befreien sie deren Vorstellungskraft. Wer das Diktat des Bildes bricht, der setzt Bilder im Kopf frei. Und dort entsteht bekanntlich der wahre Horror.

© SZ vom 06.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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