Fernsehen und soziale Medien:Operation Shitstorm

Neuaufnahmen im Duden

"Shitstorm" wurde 2013 neu in den Duden aufgenommen. Die heiklen Kommentare in Internetportalen beschäftigten auch die Öffentlich-Rechtlichen.

(Foto: dpa)

Vor wenigen Jahren war die Hemmschwelle für kritische Äußerungen von Lesern und Zuschauern noch hoch. Inzwischen kann jeder ohne großen Aufwand kommentieren, auch anonym. Nicht selten entlädt sich dabei ein Shitstorm. Wie die öffentlich-rechtlichen Sender damit umgehen.

Von Daniel Bouhs

Der bisher vielleicht unangenehmste Tag für die Onlineredaktion des ZDF lag im Frühjahr 2012. Heute-Journal-Anchor Claus Kleber war in den Iran gereist, um den damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad zu befragen, eine ebenso exklusive wie umstrittene Veranstaltung. Was zu kurz kam: dass der Ex-Diktator - irre wie er ist - fleißig den Holocaust leugnet. Über Kleber entlud sich ein "Shitstorm", ein Sturm voll Scheiße.

"Nachdem wir das Interview ins Netz gestellt haben, liefen über Nacht 1000 Kommentare auf", erinnert sich Andreas Rother. Er betreut mit einer übersichtlichen Mannschaft die Auftritte des Mainzer Senders in sozialen Netzwerken. Bei Facebook, Twitter, Google Plus und Youtube kann sich erst mal jeder äußern - damit eben auch Propagandisten. Damals bejubelten sie Ahmadinedschad und ließen ihrem antisemitischen Irrsinn freien Lauf.

Meist sei die digitale Kommunikation kein Problem, berichtet Rother, allenfalls mal primitiv. Doch bei politisch heiklem Material wie jenem Aufeinandertreffen in Teheran oder unlängst zur Alternative für Deutschland (AfD) erhalte eine Diskussion rasch Schlagseite. Vor allem auf dem Videoportal Youtube, das vor anonymen Kommentatoren bisher nur so strotzt - hemmungslose Notizen inklusive. Nach den Hass-Attacken auf Klebers Interview hat sich die Redaktion dafür entschieden, neue Einträge dazu manuell zu veröffentlichen.

"Manches dort ist jedenfalls nur schwer zu ertragen"

Keine zehn Jahre ist es her, dass die Hemmschwelle für kritische Äußerungen noch hoch lag: Zuschauer und Leser, die ihre Meinung kundtun wollten, mussten einen Schriftsatz verfassen - erst per klassischem Leserbrief, dann per elektronischer Post. Ob diese Zeilen überhaupt je das Licht der Öffentlichkeit erblicken würden, war außerdem äußert fraglich. Das lag in den Händen der Redaktionen, die so als Zensoren oder Verstärker fungierten.

Inzwischen lässt sich im Netz aber nahezu alles kommentieren. Für Medienmacher ist das Fluch und Segen zugleich. Vor allem der Videodienst Youtube, der Teil der Google-Familie ist, war bisher nicht nur prädestiniert für Belanglosigkeiten ("Erster! ;-P"), sondern auch für Pöbeleien. Die Plattform macht es Nutzern leicht, sich hinter Kunstnamen zu verstecken - mit entsprechenden Folgen für die Debattenkultur unter den einzelnen Clips. "Wenn ich mir eine Stunde lang Kommentare bei Youtube durchlese, habe ich erst mal das Bedürfnis, duschen zu gehen", sagt Rother. "Manches dort ist jedenfalls nur schwer zu ertragen."

Zumindest etwas gemäßigter gehe es bei den anderen Plattformen zu, die als klassische soziale Netzwerke wiederum auf Klarnamen setzen. Aber auch hier können sich Nutzer in die Anonymität flüchten, denn bei der Registrierung fragt schließlich niemand nach einem Personalausweis. Allein der Aufwand für gefälschte Profile ist etwas größer. Deshalb sind bei Facebook und Co. viele tatsächlich mit ihrer wahren Identität unterwegs. Da überlegt man sich zweimal, ob es angebracht ist, ungehalten zu werden. Das fördert Qualität.

Durch wie viele Kommentare sich seine Leute täglich kämpfen müssen, kann Rother nicht genau beziffern. Doch allein auf dem Facebook-Profil der Heute-Nachrichten laufen etwa 300 am Tag auf - es ist ein kleineres von vielen Auftritten des Senders im Web 2.0, in dem Nutzer mitreden können. Die ARD wiederum legt sich für ihren Kanal bei Youtube fest: Ein Mitarbeiter sichte dort pro Monat mehr als 6000 Kommentare, sagt Heidi Schmidt, Chefin von ARD.de, das ebenfalls in Mainz angesiedelt ist. Schmidt bleibt nüchtern: "Häme gegenüber der ARD und harsche Kritik am Rundfunkbeitrag sind uns nicht unbekannt." Gelöscht werde aber nur, wenn Kritik justiziabel werde oder ins Extremistische abrutsche.

"Hervorragende Qualitätskontrolle"

Im Kanzlerinnen-Deutsch könnte man sagen: Lesern und Zuschauern im Digitalen die Möglichkeit zu bieten, über die journalistische Arbeit im öffentlichen Raum zu diskutieren, ist für die Branche alternativlos. Natürlich könnten sich Medien dem Dialog verweigern - zumindest auf einigen Portalen lassen sich Kommentare auch gänzlich abschalten. Der Reflex der Nutzer aber wäre absehbar: Wie dünnhäutig und unsouverän muss eine Redaktion sein, die sich der modernen Welt verschließt? So machen alle mit, auch in der Hoffnung, dass ihnen der Austausch etwas bringt, ein Gefühl für die Stimmung etwa.

ARD-Onlinechefin Schmidt erzählt von der Debatte über den Fernsehfilm Operation Zucker, der sich zuletzt mit dem Schicksal misshandelter Kinder in Deutschland befasst hat. Im Netz sei es zu einer "sehr intensiven qualitativ wertvollen Diskussion" gekommen: "Viele Nutzer gaben persönlich sehr anrührende Kommentare ab." Und auch ihr Kollege Rother schätzt durchaus den offenen Dialog. Der sei mithin auch eine "hervorragende Qualitätskontrolle", etwa für Fehler in Beiträgen oder wenn mal die Mediathek hake.

Die Debatte im Netz wird jedenfalls nicht mehr weggehen. Deshalb arbeiten alle Seiten längst daran, die oft wenigen wirklich guten Beiträge aus der teils wahnsinnigen Flut von Kommentaren herauszustellen. Eine Möglichkeit: Nutzer werten gegenseitig Stimmen auf oder ab, etwa indem sie Sternchen vergeben oder auf Däumchen mit entsprechender Haltung klicken. Mit so einem System arbeitet unter anderem auch diese Zeitung im Netz.

Die Praxis abwarten

Google wiederum verbindet nun Youtube mit seinem eigenen sozialen Netzwerk. Ruft ein Google-Plus-Nutzer ein Video auf, dann sollen sowohl die Kommentare etwa des Künstlers prominenter platziert werden, der den Clip eingestellt hat, als auch die Bemerkungen von anderen, mit denen der Surfer auch jenseits von Youtube in Kontakt steht. Google versucht damit, seine Facebook-Alternative interessanter zu machen. Nicht zuletzt dürfte diese Funktion aber auch dafür sorgen, dass die übelsten Kommentare zumindest nach unten wandern und für die meisten Nutzer damit unsichtbar erscheinen.

ARD-Onlinerin Heidi Schmidt will für ein Urteil die Praxis abwarten, sagt aber schon mal, dass sich ihr Haus von der Verknüpfung und der "damit einhergehenden Pflicht für Klarnamen qualitativ gute Kommentare" erhofft. Auch ihr Kollege Rother vom ZDF baut darauf, dass Youtube neu sortiert, was Nutzer unter den Videos notieren: "Authentizität würde ich mit Blick auf den Tonfall vieler Kommentare nicht zu hoch hängen wollen."

Wenn am Ende der Dreck, mit dem zumindest einige Nutzer aus der Anonymität heraus das Netz beschmeißen, nicht mehr so offensichtlich ist - vielleicht kann sich Andreas Rother ja dann die ein oder andere Dusche wieder sparen, zumindest solange er nicht auf Nebenschauplätze schaut. Bei Youtube haben Ahmadinedschad-Anhänger nämlich einfach Kopien des umstrittenen Interviews hochgeladen, um weiter ihre üblen Sprüche klopfen und publizieren zu können. Immerhin: abseits aller Aufmerksamkeit.

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