Factchecker beim "New Yorker":Wie wahr sind Fakten?

Beim "New Yorker" heißt die Abteilung "Vatikan der Wahrheit" - dabei dürfen Fact-Checker gar nichts glauben

Camilo Jiménez und Katja Riedel

Für die Sache mit Bill Murray gehen Dylan und Russel an die Grenzen. Trinkt der Schauspieler wirklich ein Glas Milch, wenn er nicht einschlafen kann? Können wir das überprüfen? Die "Fact-Checkers-Unit" rückt aus, geradewegs zu Murrays Loft. Einen Einbruch und Stunden später ist es den Jägern des unbewiesenen Fakts gelungen: Murray hat tatsächlich zur Milch gegriffen und ist eingeschlummert wie ein Baby.

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Stimmen diese Nachrichten? Fact-Checker beim

New Yorker

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(Foto: Foto: ddp)

"Fakt - gecheckt", die Wahrheitssucher triumphieren. Mit seinem Kurzfilm, der auch im Internet kursiert, setzt der amerikanische Regisseur Dan Beers einer Institution des angloamerikanischen Qualitätsjournalismus ein Denkmal: den Fact-Checkern - den Pfeilern, auf denen deren tadelloser Ruf gründet.

Die Satire betont, was Peter Canby wohl als nur leicht übertrieben bezeichnen würde. "Unser Job ist es, skeptisch zu sein", sagt er. Canby hat dünnes Haar und trägt eine schief sitzende Brille. Der 59-Jährige leitet das Team, das viel zu dem Nimbus beigetragen hat, der die organisierte Fehlersuche umgibt. Er arbeitet für das Magazin The New Yorker. Unter seiner Leitung prüfen die Fehlerjäger jede Zeile, und Canby freut sich, dass sein Magazin "nur sehr wenige" Fehler beinhalte; wie viele, behält er trotzdem lieber für sich.

Die weltberühmten Hefte mit Karikaturen, moderner Dichtung und großen Reportagen aus Krisengebieten überprüft Canbys Team bis ins letzte Detail: "Wir verifizieren alles, sogar die Fiktion." Canbys Abteilung im 20. Stock des New-Yorker-Hauses am Times Square nennt die Medienwelt mit einer Mischung aus Neid, Spott und Bewunderung "den Vatikan der Wahrheit".

"Hinter die Behauptung ein Fragezeichen"

An diesem Tag Ende März spricht er im Hamburger Spiegel-Haus, der Titel seines Vortrags lautet "The Vatican of Truth? - Fact Checking at The New Yorker", und Skeptiker Canby sagt trocken: "Als Fact-Checker freue ich mich, dass man hinter diese Behauptung ein Fragezeichen gesetzt hat."

Peter Canby und seine Zuhörer sind auf Einladung der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche nach Hamburg gekommen; ein Wochenende lang sollten Reporter und Dokumentare aus Europa und den USA sich darüber austauschen, wie sie die Fehlersuche verbessern können. Und gerade weil diese Tagung in Zeiten des großen Personalabbaus und der Umstrukturierungen in den Medienhäusern fällt, ist Canby nicht der Einzige, der die Stirn runzelt. Wie soll man mit weniger Leuten schneller arbeiten und dabei bessere Qualität liefern?

Der große Abbau

Der große Abbau der Fact-Checking-Abteilungen begann Ende des 20. Jahrhunderts in den USA - genau dort, wo ihre Erfolgsgeschichte in den 1920er Jahren angefangen hatte. 1996 verwandelten die Politmagazine Time und Newsweek ihre Fact-Checker in "researching reporters", eine Art Rechercheassistenten. Die Zeitschriften Fortune und Vogue schafften ein Jahr später entsprechende Ressorts ab und übergaben überforderten Korrektoraten den Job.

Noch bestehende Bastionen der Verifikation wie The New Yorker, Vanity Fair und Esquire müssen mittlerweile um ihre Faktenprüfer kämpfen. "Die große Angst ist (...), dass auch sie eines Tages Gegenstand taufeuchter Erinnerungen an die guten alten Zeiten werden", schreibt der kanadische Medienexperte Craig Silvermann. Laut einer Studie der University of Oregon sind in mehr als der Hälfte aller Zeitungsberichte in den USA falsche Fakten zu finden.

Zwei unabhänige Quellen

Um den Verlust ihres Arbeitsplatzes müssen hierzulande aber nur wenige Dokumentare, die deutschen Fact-Checker, fürchten, denn die professionelle Faktenkontrolle durch darauf spezialisierte Kräfte hat praktisch keine Tradition. Tageszeitungen haben zwar Schlussredaktionen, aber keine Dokumentationen. 2006 ergab eine Umfrage in 259 Redaktionen: Nur sechs von ihnen hatten eine eigene Abteilung, die vor der Veröffentlichung prüfte, ob das, was die Redakteure an vermeintlichen Fakten zusammengetragen hatten, auch wirklich stimmte.

Inzwischen leisten sich noch weniger Magazin-Verlage eine Dokumentation, die Aussagen verifiziert, bevor Artikel in Druck gehen. Der Stern hat seine Dokumentation stark ausgedünnt, das Impressum zählt noch 14 Faktenprüfer. Alle Geo-Ableger (Gruner+Jahr) prüfen insgesamt elf Dokumentare, Brand Eins beschäftigt zwei Mitarbeiter.

Der Burda-Verlag hat eine Dokumentationsabteilung, die vor allem Beiträge der Focus-Familie sowie manche Playboy-Texte prüft, wie deren Chef Martin Seidl berichtet. 13 Mitarbeiter kümmern sich darum, aus dem Magazin, das zu seinem Start für "Fakten, Fakten, Fakten" zuständig sein wollte, die zwei bis drei sachlichen Fehler pro Seite zu beseitigen, die laut Seidl im Schnitt auffallen. Die Zusammenarbeit mit den Redakteuren verlaufe nicht immer reibungslos, nicht jeder sei froh, wenn man in seinem Text einen Fehler oder ein schiefes Bild korrigiere, gibt er zu. Jede Aussage müsse auch in der Dokumentation durch zwei unabhängige Quellen belegt werden - ein hoher Anspruch.

Ein Dokumentar auf drei Redakteure

Dem Konkurrenten aus Hamburg dürfte diese Aufgabe personell leichterfallen. Denn die mit Abstand größte Dokumentationsabteilung besitzt in Deutschland Der Spiegel. Ein Dokumentar kommt dort auf drei Redakteure, siebzig Fehlersucher sind es insgesamt. Mediziner, Physiker, Juristen, Volks- und Betriebswirte, Islamwissenschaftler oder Militärexperten durchforsten Zeile für Zeile. Doch auch das Wochenmagazin wird durch die elektronische Konkurrenz getrieben, noch aktueller zu sein.

Der Produktionsprozess rückt näher an den Druck heran; was das für die Arbeit der Dokumentare heißt, lässt sich leicht ableiten. Dokumentations-Chef Hauke Janssen sagt, die genaue Überprüfung sei erst mal ein Kostenfaktor, zahle sich aber aus. Denn Geld könne man angesichts der vielen kostenlosen Konkurrenz aus dem Netz nur verdienen, wenn das gedruckte Wort zuverlässig ist.

1153 Änderungsvorschläge für eine Ausgabe

Eine Diplomarbeit förderte 2008 zutage, dass die Spiegel-Dokumentare in einer einzigen Ausgabe 1153 Änderungen vorschlugen. Abzüglich Rechtschreibung und Stilfragen verblieben 559 Fehler und 400 Ungenauigkeiten. Mehr als 85 Prozent davon stuften die Fact-Checker als relevant oder sehr relevant ein. Nur jede achte Änderung lehnte der Redakteur ab. "Wenn die Presse die vierte Gewalt im Staat sein möchte, muss sie selbst glaubwürdig sein", sagt Janssen.

Auch New Yorker-Dokumentar Canby kämpft dafür, dass das teure 16-köpfige Team aus Geistes- und Naturwissenschaftlern auch in schwierigen Zeiten erhalten bleibt. Besonders bedeutend ist die Akribie, wenn es beim New Yorker um investigative Beiträge und Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten geht. Kommt ein fertiger Text in Canbys Büro, bestellen die Überprüfer Notizhefte, Kassetten, die Daten aller Ansprechpartner - auch wenn es um geheime Informanten geht; und auch, so Canby, wenn der Autor Seymour Hersh heiße.

Der berühmte Reporter hat mit seinen Recherchen vieles enthüllt. Hersh hat das Massaker von My Lai 1968 in Vietnam ans Licht gebracht, als 33-jähriger freiberuflicher Reporter erhielt er dafür den Pulitzer-Preis. Auch den Folterskandal im Gefängnis der US-Armee in Irak, Abu Ghraib, deckte er exklusiv für den New Yorker auf. Doch auch bei Hershs investigativen Beiträgen geht die Verifikationsabteilung allen Fakten nach. Hersh selbst unterstütze diese Arbeit, so Canby. Auch wenn dazu ein 27-jähriger College-Absolvent mit höchsten Entscheidungsträgern der USA telefonieren müsse. "Wenn jemand im New Yorker erwähnt wird, sprechen wir mit ihm - auch wenn das nicht einmal der Autor selbst getan hat."

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