Eurovision Song Contest:Bodenturn-EM mit Lalala

Die Favoritin siegt mit sensationellem Vorsprung, Deutschland landet unter den Top Ten, Anke Engelke verabreicht dem Ganzen einen Schuss politische Brisanz - Mission erfüllt in Baku. Ansonsten verband der Eurovision Song Contest größtmögliche technisches Spektakel mit dünnstem musikalischen Inhalt. Nach dem Gesangswettbewerb wird ja immer wieder mal über Regeländerungen nachgedacht. Hier fünf Vorschläge.

Hans Hoff, Baku

Eurovision Song Contest: Akrobatisch: Donny Montell tanzt für Litauen.

Akrobatisch: Donny Montell tanzt für Litauen.

(Foto: AP)

Es ist zehn nach vier am frühen Morgen, als Roman Lob in Baku zum Interview auftaucht. Achter ist er geworden beim 57. Eurovision Song Contest. Das ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass es Lena 2011 beim Heimspiel in Düsseldorf nur auf den zehnten Platz geschafft hat.

"Ich bin glücklich", sagt der 21-jährige Industriemechaniker. Top Ten war angestrebt. Mission erfüllt. "Ich habe mich wohlgefühlt auf der Bühne", berichtet er von seinem Auftritt vor geschätzt 120 Millionen Fernsehzuschauern in 46 Ländern. Zur Halbzeit der Abstimmung lag er allerdings noch weit abgeschlagen im hinteren Drittel. Hat er sich da vielleicht schon aufgegeben? "Was heißt aufgegeben", entgegnet der Westerwälder und schaut mit seinen Knopfaugen so charmant wie er immer schaut. "Es gibt immer Hoffnung", sagt er in bester Sozialpädagogenmanier. Pläne hat er auch. Allerdings sehr normale. "Erst mal abhängen und ausschlafen", sagt er. Danach will er schauen, wie es mit seinem Leben und der Karriere weitergeht.

Kurz danach tritt auch die Siegerin des ESC vor die Presse. Loreen heißt sie, kommt aus Schweden und hat aus 42 Ländern sensationelle 372 Punkte kassiert. Das ist, als hätte sie aus 31 Ländern die Höchstpunktzahl eingeheimst, aber es verteilte sich natürlich gleichmäßiger. Auf jeden Fall lag die 28-Jährige, die schon im Vorfeld als klare Favoritin gehandelt worden war, von Anbeginn auf den vorderen Plätzen. Auf den Folgerängen landeten mit ordentlichem Abstand (259 Punkte) die russischen Großmütter mit ihrem Tanzhit "Party For Everybody". Auf Platz drei schaffte es der serbische Beitrag.

Ganz bitter wurde es für den Briten Engelbert Humperdinck. Der holte gerade mal zwölf Punkte und landete damit auf dem 25. Platz, nur noch gefolgt von dem mit sieben Punkten total gefloppten Norwegen-Beitrag.

Nach dem Finale des ESC wird ja immer wieder mal über Regeländerungen nachgedacht, und dann wird lange debattiert, ob die entsprechenden Vorschläge sinnvoll sind. Sehr sinnvoll wäre auf jede Fall folgende neue Regel: Dem gastgebenden Land wird verboten, die Zuschauer mit einer Flut von Werbefilmchen zu überziehen, so dass fast nichts mehr zu bemerken ist von den komischen Liedchen dazwischen. Die Regel wäre die zwingende Schlussfolgerung aus der diesjährigen Inflation von einfallslosen Werbeclips für Aserbaidschan. Zwei Dutzend waren es mindestens.

Und wenn man gerade mal bei der Sache ist, dann könnte man auch gleich noch vier weitere Elemente verändern. Regel 1: Der ESC ist nicht mehr die europäische Meisterschaft im Bodenturnen. So viele überflüssige und komplett unmotivierte Überschläge und Saltos wie in die diesem Jahr würden dann vermieden. Regel 2: Lieder in denen lalala vorkommt, werden von vornherein als ungültig gewertet, womit in diesem Jahr schon Zypern, Italien und Rumänien die Sachen hätten packen müssen.

Regel 3: Schrille Schreie sind verboten. Das hätte in diesem Jahr gegolten für die Ukraine, besonders aber für den Beitrag Albaniens, wo man die Genfer Konvention ganz offensichtlich für eine, sagen wir mal, Empfehlung hält, was man zumindest aus dem Vortrag von Rona Nishliu schließen konnte. Regel 4: Der Gebrauch pyrotechnischer Effekte, von Goldregen bis plötzlich in den Hallenhimmel schießenden Funkenfontänen, sollte auf ein Minimum beschränkt werden. Wäre diese Regel schon in diesem Jahr aufgestellt worden, hätte wohl die Hälfte der angetretenen Sänger stumm bleiben müssen.

Wenn dann noch ein bisschen Luft ist, könnte man auch darüber nachdenken, ob man Beiträge zulässt, die ihre gesamte Existenzberechtigung aus der Niedlichkeit der auftretenden Artisten ziehen. Nicht ohne Grund sind Kinder und Tiere auf der ESC-Bühne verboten. Da wäre es doch auch eine schöne Maßnahme, russischen Großmüttern einen etwas würdigeren Lebensabend zu ermöglichen und sie nicht 120 Millionen Menschen als schräge Attraktion vorzusetzen.

"Europe is watching you"

Andererseits fragt man sich natürlich, was der ESC ohne skurrile Typen und Aktionen wäre. In diesem Jahr sicherlich ein Totalreinfall, denn musikalisch war der Jahrgang 2012 ein äußerst mauer. Nur wenige Lieder wirkten wirklich durchdacht und hatten ein bisschen von der Qualität, die es braucht, um ein bisschen länger als bis zum nächstem Atemzug in der Erinnerung zu verweilen. Schon Ende der Woche wird sich kaum jemand noch an viel mehr als den Siegertitel und den aus dem eigenen Land erinnern können.

Eurovision Song Contest: Schön die Spannung halten: Ivi Adamou performt für Zypern.

Schön die Spannung halten: Ivi Adamou performt für Zypern.

(Foto: AP)

An der Zeit wäre es auch darüber nachzudenken, ob Künstler und Lied zusammen passen. So hatte Engelbert sicherlich das ausgefeilteste Lied im Angebot, blieb aber eben Engelbert. Im Falle von Italien lief es genau andersherum. Mit Sicherheit war Nina Zilli die beste Sängerin, musste sich aber mit einem ziemlich belanglosen Trällerliedchen präsentieren, das es gerade so in die Top Ten schaffte. Da wäre durchaus mehr drin gewesen.

Schwer zu lösen sein dürfte das Dilemma, dass manche Lieder durch die opulente visuelle Inszenierung in der Halle aufgewertet werden, dass sich davon auf dem Bildschirm aber nur eine Light-Version wiederfindet. Natürlich weiß der Zuschauer vor dem Fernseher nicht, was ihm entgeht, aber es ist eine Menge.

Nach wie vor pflegt man beim ESC das eklatante Missverhältnis zwischen größtmöglicher technischer Brillanz und dem dünnsten musikalischen Inhalt. Das Licht, die Bilder und die Aktionen sind in Sachen großer Showkunst state of the art, während die musikalischen Beiträge in ihrer Mehrzahl nach wie vor darauf angelegt scheinen, direkt nach dem ESC-Wochenende vergessen zu werden.

Die Moderation in diesem Jahr dürften Judith Rakers und Stefan Raab mit viel Wohlwollen angeschaut haben. So schlecht und steif wie die beiden können das auch andere. Dass Anke Engelke 2011 wesentlich mehr zu bieten hatte, ist angesichts der gewohnten ESC-Moderationsversuche eher als Ausnahme zu werten und hat vor allem mit dem großen Talent der Kölner Komikerin zu tun.

Die war zudem die einzige, die dem albernen Trällerfinale einen Schuss politische Brisanz zu verabreichen wusste. Als Verkünderin der deutschen Abstimmergebnisse ermahnte sie Aserbaidschan durch die Blume, das mit der Demokratie nicht nur ein Wort sein zu lassen. "Es ist gut, eine Wahl zu haben", sagte sie und wünschte Aserbaidschan eine gute Reise auf dem Weg dorthin.

"Europe is watching you", schob sie noch nach und setzte sich damit nicht nur deutlich ab von den albern standardisierten Glückwunschadressen der restlichen Verkünder, sie gab dem Gastgeberland auch so etwas wie eine feine, wohl dosierte Drohung mit den auf den Weg. Du beobachtest dein Volk, wir beobachten dich, lautete die Botschaft. Die ESC-Welt hat sie wohl gehört.

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