ESC-Siegerin Jamala:Jamalas ESC-Song: Sinnbild für Europa

ESC-Siegerin Jamala: ESC: Jamala vertrat die Ukraine mit ihrem Lied "1944".

ESC: Jamala vertrat die Ukraine mit ihrem Lied "1944".

(Foto: AFP)

Die ukrainische ESC-Siegerin Jamala kehrt mit ihrem Lied "1944" ihr Inneres nach Außen, beleuchtet ein historisches Verbrechen - und zeigt dabei, was Europa so besonders macht.

Porträt von Paul Katzenberger

Am Schluss war es das normale Volk, das Jamala mit ihrem Lied "1944" zum Sieg trug. Wäre es nur nach den Experten der Jury gegangen, dann hätte die Australierin Dami Im mit ihrer mächtigen Ballade "Sound of Silence" den European Song Contest (ESC) 2016 gewonnen. Erstmals wurden in diesem Jahr die Stimmen der Juroren und des Publikums getrennt ausgezählt, und so wurde deutlich, dass Jamala mit ihrer nachdenklichen Hymne auf die Krimtataren die Herzen der Zuschauer besonders erreichte.

Susana Jamaladinowa kann mit Menschen - in ihrem Leben hat die 32-Jährige das immer wieder bewiesen. Als sie mit 17 Jahren ihrer Lehrerin am Musikkolleg in Simferopol sagte, dass sie am Konservatorium in Kiew studieren wolle, antwortete diese ihr: "Dann solltest Du Deinen Nachnamen ändern." Jamala war erschüttert. Ausgerechnet die Lehrerin, der sie seit Jahren vertraute, glaubte offenbar wegen ihrer Herkunft nicht, dass sie es schaffen konnte.

Jamala behielt ihren Namen und ergatterte den Platz am Konservatorium trotzdem. In Kiew sang sie Jazz, trat in der Oper auf und war in der ukrainischen Hauptstadt rasch bekannt. Die Menschen nahmen keinen Anstoß daran, dass sie Krimtatarin ist, es machte sie vielmehr interessant.

So konnte sie verbinden, was ihr Leben von Kindesbeinen an geprägt hatte. Als Tochter eines muslimischen Krimtataren und einer christlichen Armenierin war sie 1983 in Kirgisien geboren worden, wohin Stalin ihre tatarische Urgroßmutter 1944 von der Krim hatte vertreiben lassen.

Nach der Auflösung der Sowjetunion war ihre Familie zu Beginn der 1990er Jahre unter den ersten Tataren, die auf die Krim zurückkehrten. Im Dorf ihrer Vorfahren stießen sie auf große Vorbehalte, die Bewohner fürchteten, die Rückkehrer würden ihr Eigentum zurückfordern. Dem tatarischen Vater hätte niemand ein Haus verkauft, so musste es die christliche Mutter erwerben. In ihrer Klasse stieß Jamala als einzige Tatarin auf viele Vorurteile.

Oper, Jazz und Soul

Doch gleichzeitig war ihre Kindheit von der Musik geprägt. Die Mutter gab Klavierstunden, der Vater dirigierte im Chor. "Es gab keinen einzigen Tag ohne Musik bei uns zu Hause", sagte Jamala der Welt. Klassische Musik, Bach und Rachmaninow, das seien die Leidenschaften der Mutter gewesen. Jazz und Funk - Nina Simone, Ella Fitzgerald, Billie Holiday, James Brown - die des Vaters. Nina Simone inspiriere sie bis heute, sagt Jamala.

Bereits mit neun Jahren nahm sie ihre erste Platte auf, Kinderlieder und Volksweisen der Tataren. Ihre musikalische Ausbildung begann sie an der Musikschule des Kurortes Aluschta, später wechselte sie auf das Musikkolleg der Krim-Hauptstadt Simferopol. Bis sie, mit 17 Jahren, für das Konservatorium in Kiew empfohlen wurde.

Während ihrer Ausbildung zur Opernsängerin entdeckte Jamala ihr Faible für Jazz und Soul. Ihren Durchbruch feierte sie 2009 beim New-Wave-Festival in Jurmala, Lettland. Es folgten Auftritte in Kiew, Moskau und Berlin.

Russische Politiker forderten Jamalas Disqualifikation

2010 stellte sie sich erstmals dem ukrainischen Vorentscheid für den ESC. Mit der heiteren Pop-Nummer "Smile" platzierte sie sich weit vorne, doch wegen Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung sollte der Wettbewerb wiederholt werden. Jamala trat nicht noch einmal an, sie hatte nach eigener Aussage den Glauben an eine faire Austragung der Veranstaltung verloren.

Bei ihrem zweiten ESC-Anlauf Ende Februar gab es wieder Aufregung. Nachdem sie sich beim Vorentscheid durchgesetzt hatte, wurde ihr Beitrag "1944" zum Politikum.

In dem selbst komponierten Lied erzählt Jamala die Geschichte ihrer Urgroßmutter Nasylchan, die im Mai 1944 mit fünf Kindern aus ihrem Haus auf der Krim geholt und auf eine mörderische Reise nach Zentralasien geschickt worden war. "Die Menschheit weint", heißt es in "1944", "jeder um mich herum stirbt. Verschlingt nicht meine Seele, unsere Seelen". Fast die Hälfte der Krimtataren kam während der Deportationen ums Leben.

Die Vorwürfe: "Russland zu verletzen"

Es geht um ein historisches Ereignis, doch das Lied wird als Protest gegen die Annexion der Krim durch Russland vor zwei Jahren gedeutet. Wenn die Ukraine schon mit politischem Inhalt auftreten wolle, dann solle sie ihre eigenen aktuellen Probleme besingen, sagte etwa der kremltreue Duma-Abgeordnete Robert Schlegel: "Ein Lied über Korruption oder politische Unterdrückung in Kiew könnte auch erfolgreich sein." Jamalas Lied verfolge nur ein Ziel, nämlich "Russland zu verletzen", schimpfte der russische Politiker Wadim Dengin.

Jamala versuchte, die Wogen zu glätten: "Man kann Parallelen ziehen", räumte sie ein, "aber ich möchte unter keinen Umständen, dass die Ereignisse heute so tragisch wie 1944 enden." Und weiter: "Genau deswegen singe ich das Lied, damit wir wissen, was geschah, und die Fehler nicht wiederholen."

Außerdem betonte sie den friedfertigen Charakter ihres Beitrages: "In diesem Lied gibt es keine Politik", sagte sie. "Wenn man im Text etwas Konkretes finden würde, Drohungen und Forderungen, dann kann ich ihn ändern. Aber ich bin mir sicher, dass es dort so etwas nicht gibt", sagte sie der Deutschen Welle.

Am Ende setzten sich die Duma-Abgeordneten mit ihrer Forderung einer Disqualifikation von "1944" bei der European Broadcasting Union (EBU) nicht durch. Weder der Titel noch das Lied hätten einen politischen Hintergrund, sondern stellten nichts anderes dar als eine historische Tatsache, hieß es.

In der Begründung schwang schon ein Grund mit, warum sich "1944" am gestrigen Abend im Stockholmer Ericsson Globe durchsetzen konnte. Die modern klingende Soul/Electropop-Ballade schlägt mit ihren folkloristischen Elementen eine Brücke zwischen Historismus und Moderne - was könnte besser zu Europa passen? Es sind die Biografien von europäischen Menschen wie Jamala, die diesen Kontinent so einzigartig machen.

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