ESC-Siegerin Conchita Wurst:Europa einig tolerant? Von wegen!

Conchita Wurst representing Austria reacts after qualifying in the second semi-final at the 59th annual Eurovision Song Contest at the B&W Hallerne in Copenhagen

"Wir sind unaufhaltsam", bekräftigte Conchita Wurst nach ihrem ESC-Sieg.

(Foto: REUTERS)

Eine "Ohrfeige für alle Homophoben" sei der Sieg des Travestiekünstlers Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest, hieß es. Wirklich? Am Tag danach herrscht schon wieder Katerstimmung.

Von Carolin Gasteiger

Conchita Wurst gewinnt den Eurovision Song Contest und Tausende tragen aus Solidarität mit der Travestie-Künstlerin einen Damenbart. Österreichs Medien nennen sie die "Queen of Austria" und auch wir nannten den Abend in Kopenhagen einen "Triumph von Herz, Humor und Toleranz". Ihre musikalisch durchaus beachtliche Leistung ging aber schnell unter angesichts der Tatsache, dass ein Mann mit Bart und im Glitzerkleid sich gegen 36 andere europäische Künstler durchgesetzt hat. Das scheint viel wichtiger zu sein.

Die Bild-Zeitung betont, dass Conchita Wurst aus den "katholischsten Ländern unseres Kontinents" - Portugal, Spanien, Irland und Belgien - die Höchstpunktzahl bekam. Ganz Europa scheint zu jubeln und in Wursts Kür zur ESC-Siegerin ein länderübergreifendes Statement gegen Diskriminierung und Homophobie zu sehen, besser: "Eine Ohrfeige für alle Homophoben in Europa", wie eine norwegische Zeitung titelt.

Aber, wie so häufig nach ausschweifenden Feiern: Am nächsten Tag herrscht Katerstimmung. Man fragt sich angesichts des Conchita-Hypes: Ist es wirklich so einfach? Sogar die Bild rudert zurück - und lässt Béla Anda darüber sinnieren, ob er den Auftritt wirklich gut finden muss. Schafft es ein 25-jähriger Travestiekünstler mit seinem Auftritt, Homophobe in ganz Europa zum Schweigen zu bringen?

Wohl kaum: Beim Eurovision Song Contest stimmt nicht ganz Europa ab. Den Musikwettbewerb verfolgt - man muss sich nur im Bekannten- und Freundeskreis umhören - nach wie vor eine besondere, eingeschworene Fangemeinde. In Deutschland waren 8,96 Millionen dabei (zum Vergleich: Ein guter Tatort holt schon mal zehn Millionen vor den Bildschirm). In ganz Europa sollen Schätzungen zufolge 120 Millionen bis 180 Millionen Zuschauer die Sendung gesehen haben. das entspricht kaum einem Fünftel der europäischen Gesamtbevölkerung. So weit die Zahlen: Wie viele Menschen tatsächlich für Conchita Wurst angerufen haben (viele von ihnen womöglich mehrfach), das ist schwer auszumachen. Also ist die Wurst-Wahl ein schlechter Indikator dafür, wie es um Europas Einstellung gegen Homophobie bestellt ist.

Hinzu kommt: Die Endwertung ergibt sich in fast allen Ländern aus den Stimmen der Zuschauer und einer jeweils fünfköpfigen Jury. In Deutschland saßen darin der Musiker Andreas Bourani, Jennifer Weist von der Band Jennifer Rostock, der Berliner Rapper Sido, Songwriterin Madeline Juno und Talentsucher Konrad Sommermeyer. Ihr Voting wird mit den Zuschauerstimmen zu gleichen Teilen verrechnet. Die Zuschauer wählten die Österreicherin zwar auf Platz eins, die Jury jedoch auf Platz 11. Heraus kamen am Ende sieben Punkte und Platz vier. Viel weniger also, als von der Bevölkerung gewünscht.

Deutschland ist kein Einzelfall, was diese Diskrepanz angeht. Der Journalist Holger Dambeck wertet in seinem Blog die Punkte für Conchita Wurst getrennt nach Jury und Zuschauern aus. Das Ergebnis: In westlichen Staaten sind sich beide Parteien weitgehend einig, die Wertungen ähnlich hoch. Anders im Osten: In Ländern wie Armenien, Georgien, Polen oder Russland stimmten die Zuschauer klar für die Österreicherin, die Jurys dagegen nicht (hier die genaue Übersicht).

Massive Vorbehalte

Konkret bedeutet das, dass ESC-Zuschauer Conchita Wurst durchweg wohlgesonnen sind - und damit einem Travestiekünstler und Homosexuellen. Was nicht weiter verwundert, hat der Eurovision Song Contest doch eine große Fangemeinde unter Schwulen und Lesben. Auch in Kopenhagen wedelten viele im Publikum mit Regenbogenfähnchen. Aber "was in der Unterhaltungsbranche wertgeschätzt wird, muss noch lange nicht im richtigen Leben akzeptiert sein", sagt Juris Lavrikovs, Sprecher von ILGA Europe, der europäischen Sektion der International Lesbian and Gay Association.

Der Organisation zufolge erreichen die europäischen Staaten nicht einmal 50 Prozent der Ziele der ILGA. Darunter fallen etwa die gesetzliche Anerkennung der sexuellen Orientierung und gleichgeschlechtlicher Partnerschaften und Familien. Davon dürfte Europa allerdings noch weit entfernt sein, wenn man sich allein die Kommentare einiger russischer Politiker zu Conchita Wursts Sieg ansieht. Wladimir Schirinowski, Abgeordneter der rechtsnationalen LDPR, beschwor "das Ende Europas" herauf und sagte im russischen Fernsehen: "Vor 50 Jahren hat die sowjetische Armee Österreich besetzt, es freizugeben, war ein Fehler, wir hätten dort bleiben sollen." Und der armenische Sänger Aram MP3 hatte Conchita vor dem ESC-Finale als "nicht normal" bezeichnet, hinterher jedoch betonte er, falsch übersetzt worden zu sein.

Auch unter SZ-Lesern herrscht Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung gegenüber dem ESC-Ausgang. Ein Leser schreibt: "Entweder der ESC findet zurück zu seiner einstigen Bestimmung, nämlich ein Wettbewerb zu sein, bei dem wirklich der musikalische Gehalt der Beiträge zur Prämierung ansteht (abseits jedweder politischer Randgruppen-Hofierung) oder aber man ändert die Bestimmungsdefinition dieser Veranstaltung als Spartenprogramm." Auch auf Twitter täuscht der Eindruck, alle wären begeistert von Conchita Wurst. Es geht nicht um eindeutige Beleidigungen, eher um unterschwellige Spitzen. Vielen ist der Travestiekünstler anscheinend nicht geheuer. Am deutlichsten äußert sich der umstrittene Journalist Jürgen Elsässer und bekennt in seinem Blog, seine "jahrmillionenalte DNS" rebelliere gegen "Ekel-Wurst".

Angesichts dieser Vorbehalte wirkt Conchita Wursts Sieg wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. "Es gibt noch viel zu tun in Europa, um Homo- und Transphobie zu überwinden", sagt ILGA-Sprecher Lavrikos. Aber, um es mit Conchita Wursts eigenen Worten zu sagen: "Wir sind unaufhaltsam" - wenn auch auf einem langen Weg.

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