Interview über Grand-Prix-Fakten:Im weißen Kleid zum Sieg

2010 ist ein Ausreißer in der Grand-Prix-Statistik - sagen die Buchautoren Claas Triebel und Clemens Dreyer. Ein Gespräch über Ralph Siegel, Lena-Klone und garantierte Titelverteidigung.

Tilman Queitsch

Clemens Dreyer und Claas Triebel haben das Buch Ein bisschen Wahnsinn - Wirklich alles zum Eurovision Song Contest geschrieben. Darin listen sie Besonderheiten und ausgefallene Daten über das Event auf. Dreyer arbeitet für Münchener Kommunikationsagenturen, Triebel betreibt an der dortigen Universität der Bundeswehr Laufbahnberatung.

Claas Triebel Clemens Dreyer

Claas Triebel (links) und Clemens Dreyer, Autoren des Buches Ein bisschen Wahnsinn - Wirklich alles zum Eurovision Song Contest, das heute erscheint.

(Foto: Erik Dreyer/oh)

sueddeutsche.de: Sie haben ein Buch mit skurrilen Fakten zum Eurovision Song Contest geschrieben. Warum?

Claas Triebel: Wir wollten ein Buch für alle schreiben, die sich den Wettbewerb gerne ansehen. Es gibt vor allem spezialisierte und zahlenlastige Werke über das Event. Wir wollten die ganze Bandbreite, von interessant über lustig bis hin zum Absurden abdecken. Die Leute treten ja teils in den verrücktesten Kostümen auf, wie die Heavy-Metal-Musiker von Lordi, die 2006 in Monster-Outfits die Trophäe gewannen.

sueddeutsche.de: Zahlen sind auch Ihr Terrain, Sie analysieren jedes einzelne ESC-Land haarklein - Albaniens Bruttonationaleinkommen pro Kopf interessiert doch eher hartgesottene Fans, oder?

Clemens Dreyer: Natürlich gehen wir auch ins Detail - aber nie der Zahlen wegen, sondern wenn es dafür einen Anlass gibt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Bruttonationalprodukt und dem Eurovision Song Contest. Neben diesen Werten beschreiben wir etwa, welche Bewerber als erstes Trickkleider benutzt haben: 1978 streifte die deutsche Kandidatin Ireen Sheer während der Performance ein Oberteil ab und sang schulterfrei weiter - das war Trendsetting, viele machten es nach. Auf der anderen Seite konzentrieren wir uns auf Grundlagen: Was ist der Grand Prix eigentlich und wie funktioniert er?

Triebel: Vergangenes Jahr haben 15 Millionen Menschen in Deutschland den Contest an den Fernsehbildschirmen verfolgt. Wenige wissen, was seine Geschichte zu bieten hat. So ist es nicht das erste Mal, dass eine Sängerin feststeht und noch ein Song gefunden werden muss. Das sind Fakten, die wir gesammelt haben.

sueddeutsche.de: 2002 gab es bereits ein eher unkonventionelles Werk zum ESC - Ein Lied kann eine Brücke sein von Jan Feddersen. Haben Sie da abgeschrieben?

Dreyer: Natürlich kennen wir das Buch. Und ebenso natürlich haben wir da nicht abgeschrieben - es diente der Inspiration. Feddersen ist absoluter Spezialist auf dem Gebiet und sehr detailgenau. Leider ist sein Klassiker schon seit langem vergriffen, sodass ein neues Buch zum ESC gerade nach Lenas Sieg überfällig war.

"Das Outfit spielt eine Rolle"

sueddeutsche.de: Nachdem Sie alle erdenklichen Werte und Statistiken zum ESC erhoben haben - wovon hängt der Sieg ab?

Triebel: Da gibt es einiges. Ein Beispiel ist die Sprache: In den vergangenen zehn Jahren siegten neun englische Songs.

sueddeutsche.de: Mit einem deutschen Titel könnte Lena nicht gewinnen?

Dreyer: Das wäre unwahrscheinlich.

sueddeutsche.de: Wer die Statistik kennt, kann also mehr Punkte bekommen?

Triebel: Dafür sprechen ernste wie auch amüsante Fakten - zum Beispiel siegen meistens Frauen. Allerdings eher stehend als sitzend. Das Outfit spielt eine Rolle - weiß gekleidete Künstler hatten bessere Chancen als schwarz angezogene. Lena war 2010 so gesehen eine Ausnahme. Mehr Gesangspersonal auf der Bühne erhöht ebenfalls die Erfolgsaussichten.

Dreyer: Und die Startposition ist wichtig: Nummer 17 gewann bereits sechs Mal, während hingegen noch niemand mit der 16 gewonnen hat.

Triebel: Letztendlich muss beim Auftritt der Funke überspringen. Das merkt man auf dem Sofa, das merken die Kommentatoren, das merkt das Publikum vor Ort: Ein Star wird geboren. Und genau das entzieht sich der Analyse. Doch ein paar Faktoren lassen sich erkennen - wenn jemand einen Song auf Rätoromanisch ...

Dreyer: ... im Sitzen zu dritt auf der Bühne vorträgt ...

Triebel: ... und dann Leute aus Aserbaidschan dafür stimmen sollen, wird es schwierig.

sueddeutsche.de: Ergo: Wenn Lena englisch singt, fünf Leute mit auf die Bühne nimmt und in Weiß dasteht, verteidigt sie ihren Titel höchstwahrscheinlich.

Dreyer: So leicht geht das natürlich nicht. Das haben schon viele osteuropäische Sängerinnen - zusätzlich mit kurzen Röcken - versucht. Das Publikum will immer wieder aufs Neue überrascht werden. Kopien kommen nicht so gut an.

Triebel: Momentan erfährt man viel über Lena-mäßige Damen, die antreten werden. Aber das Original ist gefragt.

"Lenas Mut muss man honorieren"

sueddeutsche.de: Sie spielen auf Domenique Azzopardi an, die Kandidatin aus Malta.

Dreyer: Genau. Ralph Siegel hatte einen Song für Lena geschrieben, der von Stefan Raab abgelehnt wurde. Also schickt Siegel eine ehemalige Teilnehmerin vom Junior Song Contest in Malta ins Rennen, die dieses Jahr 16 Jahre alt wird und somit teilnehmen darf.

sueddeutsche.de: Sie rechnen ihr also keine großen Chancen aus?

Dreyer: Ihr I'll follow the sunshine klingt zu sehr wie Satellite. Generell muss man anerkennen, dass Siegel extrem erfolgreich im Musikgeschäft ist, auch wenn viele über ihn den Kopf schütteln und meinen, er sollte sich davon verabschieden.

Triebel: Raab hat bisher drei ESC-Finalteilnahmen als Komponist zu verzeichnen, für Siegel wäre es der 20. Beitrag, sofern sein Schützling in Malta den Vorentscheid besteht.

sueddeutsche.de: Lena tritt zum zweiten Mal an. Ergibt das eigentlich Sinn?

Dreyer: Ja, auf jeden Fall. Lena ist die dritte Siegerin, die im Folgejahr erneut antritt. Ihren Mut, noch einmal aufzutreten, muss man honorieren. Wenn Sie es schafft, wäre das eine Sensation. Es gab bisher nur einen Kandidaten, der zwei Mal gewann: den Iren Johnny Logan. Allerdings lagen zwischen seinen Siegen sieben Jahre und es wäre doch an der Zeit, dass dieses Meisterstück auch einer Frau gelingt.

Triebel: Meistens bekamen Musiker, die im Folgejahr ihr Glück probierten, nur wenig Punkte. Aber bei Lena wird das sicher anders sein.

sueddeutsche.de: In der Jury von Unser Song für Deutschland sitzen neben Stefan Raab der Unheilig-Sänger Der Graf und Stefanie Kloß von Silbermond. Wen wünschen Sie sich dazu?

Triebel: Hape Kerkeling war für die ESC-Moderation im Gespräch. Das hat nicht geklappt. Doch wenn sich trotzdem noch eine Rolle für ihn fände, wäre das zu begrüßen.

Dreyer: Kerkeling war bereits 2010 in der deutschen Jury und ist sehr musikalisch. Er wäre in dem Gremium gut aufgehoben und eine erfahrene Bereicherung.

Je früher man ein Stück vermarktet, desto größer sind die Chancen

sueddeutsche.de: Sie ermitteln auch, wer besonders häufig Punkte miteinander austauscht - meist sind es Nachbarländer. Steckt dahinter eine gewisse Diplomatie?

Dreyer: Ja. Das macht sich bemerkbar, vor allem in Währungszonen oder wenn man sich Landesgrenzen teilt. Norwegen, Schweden und Finnland tauschen häufig Punkte aus. Wer dazu noch ähnliche Währungen hatte oder hat, ...

Triebel: ... wird in gleicher Münze zurückbezahlt.

sueddeutsche.de: Beruflich befassen Sie sich mit Markenkommunikation und Laufbahnberatung. Welche Vermarktungstipps haben Sie für Lena?

Dreyer: Je früher das Stück vermarktet wird, desto größer die Chancen - das ist auch dieses Jahr die Devise: Lenas neues Album mit allen Songs, die sie beim Contest vortragen könnte, wird noch vor dem Finale veröffentlicht. Das Produkt ist also schon vor der Sendung auf dem Markt präsent.

Triebel: Außerdem kommen Künstler mit starker, prägnanter Identität am besten an - das hat Lena vergangenes Jahr bewiesen. Ihr wird zugutegehalten, dass sie so ist, wie sie ist.

sueddeutsche.de: Was war am schwierigsten zu recherchieren?

Dreyer: Es ähnelte einer Doktorarbeit, alle Daten über jedes einzelne ESC-Land zu sammeln.

Triebel: Dafür brachte es Überraschungen mit sich. Zum Beispiel hat ein Anrufer aus Deutschland beim Televoting wegen des Länderproporzes nur etwa ein Viertel des Stimmwertes eines ESC-Fans aus Rumänien.

Dreyer: Die 141 Millionen russischen Zuschauer haben pro Person den geringsten Stimmwert. Dementsprechend sollte sich Raab mit der Lena-Vermarktung auf Malta, San Marino und Zypern konzentrieren - das hätte einen Rieseneffekt für wenig Aufwand.

sueddeutsche.de: Wie macht sich die monatelange Beschäftigung mit dem ESC bemerkbar?

Dreyer: Man bekommt viele Ohrwürmer, die schwer aus dem Kopf zu kriegen sind, darunter auch Perlen wie Wunder gibt es immer wieder von Katja Ebstein.

Clemens Dreyer, Claas Triebel, Urban Lübbeke: "Ein bisschen Wahnsinn - Wirklich alles zum Eurovision Song Contest", Verlag Antje Kunstmann, München 2011

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