Erfolgsmodel: "Vice"-Magazin:Obszön geschlitzte Früchte

Für Hipster und Nerds: Das "Vice"-Magazin hat sich vom Szeneheft zum Medienunternehmen gewandelt. Sein launisches Publikum gefällt der Werbeindustrie.

Fabian Heckenberger

Das Land des Lasters liegt im ersten Stock, zwischen dem Tonstudio Rocket und einer Praxis für Psychotherapie am Rosenthaler Platz, dort, wo Prenzlauer Berg auf Berlin-Mitte trifft. Vice, steht auf dem Klingelschild, übersetzt: Laster. Oder Fehler. Aber Fehler trifft es nicht. Die Leute hier haben vieles richtig gemacht. Zumindest, wenn das Wachstum ihres Unternehmens der Maßstab ist. Vice ist vom schmutzigen Szenemagazin zum Medienunternehmen geworden.

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Teil eines Erfolgskonzepts: Die monatliche Printausgabe, die kostenlos in 26 Ländern in Bars und Boutiquen ausliegt, hat eine Auflage von 1,2 Millionen.

(Foto: Travis Campbell)

Die monatliche Printausgabe, die kostenlos in 26 Ländern in Bars und Boutiquen ausliegt, hat eine Auflage von 1,2 Millionen. Ein Plattenlabel, ein Buchverlag, eine Werbeagentur und eine Produktionsfirma gehören zum Konzern. Freiberufler eingerechnet arbeiten 3000 Menschen weltweit in viceland.com. So heißt die zentrale Internetseite des Unternehmens.

Im Magazin und auf den Homepages stehen Fotostrecken kotzender Frauen neben Bildern bekannter Modefotografen. Es finden sich halbpornographische Stillleben obszön geschlitzter Früchte und preisgekrönte Kriegsfotografien. Die Autoren interviewen Paare, die gerade Sex hatten, und berichten aus dem Abwasserkanalsystem unter Bogotá, in dem kolumbianische Obdachlose wohnen. Jeder findet etwas, das ihn abstößt, fast jeder etwas, das ihn fasziniert. Ein Gesamtkonzept gibt es nicht.

Von allen 30 Standorten weltweit werden die unterschiedlichsten Inhalte geliefert. Aus Italien kommt Modefotografie, aus Deutschland und den USA viel Text und aus Japan völlig Durchgeknalltes. Ideen werden im Chat besprochen, auf Facebook, auch mit den Lesern. Die durchschnittliche Verweildauer auf viceland.com beträgt 23 Minuten. Im Netz ist das eine Ewigkeit.

Fast stündlich verändert sich der Vice-Auftritt, weil über alle Zeitzonen hinweg produziert wird. "Es ist eine 24-stündige Debatte", sagt Benjamin Ruth, "und das alles ganz ohne Firmenstrategie."

Der 36-jährige Herausgeber der deutschen Magazinausgabe sitzt auf einer Couch in der Berliner Redaktion. Er trägt Baseballkappe, knallbunte Turnschuhe und Augenringe wegen des Jetlags. Ruth hat gerade den Unternehmenssitz in New York besucht. Konferenzen, Konzerte, Partys. Es gibt zu tun. Er versucht zu erklären, wie es so weit kommen konnte: Warum CNN jetzt Reportagen von Vice senden will, ebenso wie das ZDF. Ruth spricht davon, dass es keine Grenzen mehr gebe zwischen Print, Online, TV, dass Inhalte hin und her pendeln. Genau wie die Leser, Zuschauer, User von Vice. "Diese Zielgruppe", sagt er, "ist unser großes Potential."

Porno, Party, Rock 'n' Roll

Das Publikum von Vice lässt sich nicht eindeutig klassifizieren. Es sind Hipster, Nerds. Spötter sagen Berufsjugendliche. Marketingexperten versuchen es mit "urbane Trendsetter". Sie sind zwischen 18 und 35 Jahre alt, gebildet, kennen sich aus im Netz und suchen nach Formen von Information und Unterhaltung abseits des Mainstreams. Für traditionelle Unternehmen sind sie schwer zu erreichen. Für Vice nicht, denn Vice ist ähnlich unberechenbar, skurril und launisch wie sie. Genau deswegen sei das Publikum so loyal, sagen sie bei Vice. Und deswegen wiederum klopfen dort Werbepartner wie Nike und Adidas, Dell und Intel an. Umsatzzahlen veröffentlicht Vice nicht. Der deutsche Ableger feierte gerade Jubiläum. 2005 gründete Ruth mit 25000 Euro Startkapital die Außenstelle. Heute arbeiten dort 32 Angestellte.

Angefangen hat alles 1994 in Kanada, als die Journalisten Suroosh Alvi, Shane Smith und Gavin McInnes die Voice of Montreal übernahmen, ein von der Regierung gefördertes Mini-Magazinprojekt für Arbeitslose. Sie strichen das o aus Voice, krempelten den Inhalt um - Schwerpunkte: Porno, Party, Rock 'n' Roll - und als es wenig überraschend mit der staatlichen Förderung vorbei war, zogen sie um nach New York. "Wir hingen mit den coolsten Leuten rum, mit Models und waren ständig betrunken", so pflegte Smith kürzlich in der Sunday Times das Image des Rockstar-Redakteurs.

Bei aller Coolness und Party ist der Diskurs zuletzt politischer geworden, vor allem dank der Internet-TV-Sparte vbs.tv. Die leitet seit 2007 der Regisseur Spike Jonze. Der Dokumentarfilm Heavy Metal in Baghdad, der Aufstieg und Flucht der irakischen Rockband Agrassicauda nachzeichnet, war bei der Berlinale 2008 eine der Überraschungen. Und Suroosh Alvi und Shane Smith (Mitgründer Gavin McInnes hat Vice mittlerweile verlassen) haben ihre Vorliebe für Reportagen in Krisengebieten entdeckt. Sie reisen mit leichten Digitalkameras dorthin, wo viele TV-Teams nicht hinkommen. Die Berichte schwanken zwischen plumper Albernheit, wenn Alvi auf pakistanischen Waffenmärkten mit Maschinenpistole posiert, und Aufklärung, wenn ein Vice-Team geheime Paraden in Nordkorea filmt. An solchem Material ist CNN interessiert.

Vice sei "jung, mittendrin und authentisch", sagt Andrea Windisch, stellvertretende Redaktionsleiterin bei ZDF Neo. Dort wissen sie, dass sie sich modernisieren müssen. Ob das ZDF und die Media-Anarchisten zusammenpassen, weiß niemand. Von Januar 2011 an wird auf Neo eine Serie mit dem Arbeitstitel Wild Germany zu sehen sein, geplant sind vorerst nur drei Folgen. Es wird "eine Reise an die obszönsten Orte des Landes", sagt Benjamin Ruth. Mehr kann der Herausgeber noch nicht verraten. Er hat jetzt gerade auch andere Sorgen. Sein Chefredakteur Tom Littlewood ist heute noch nicht aufgetaucht. An dessen Platz steht nur eine Flasche Hochprozentiges, fast leer.

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