Digitaler Journalismus:Einmal Kurator sein

Wenn Algorithmen Leseempfehlungen geben, ist das oft öde - davon profitiert eine neue Art Expertentum. Bei Blendle, Niuws oder Piyd sagen immer öfter Kuratoren den Leuten, was sie lesen sollen. Die Gegenbewegung gibt es auch schon.

Von Kahtrin Hollmer

Facebook vergleicht Michaël Jarjour gerne mit Fast Food. "Sieht gut aus", sagt der Leiter der Redaktion von Blendle Deutschland. "Aber man wird unbefriedigt zurückgelassen." Die Artikel und Inhalte, die der Online-Kiosk aus den Niederlanden empfiehlt, der im September in Deutschland gestartet ist, sind dann für Jarjour wohl selbstgekochtes Essen, um im Bild zu bleiben.

Auf Handarbeit setzt das Start-up in der Tat. Vor Kurzem erst suchte es per Stellenausschreibung Kuratoren. Zusätzlich zu einem Team aus Journalisten, die Artikel auswählen, empfehlen bei Blendle freiwillige Kuratoren wie die Wirtschaftswoche-Chefredakteurin Miriam Meckel und der Digitalchef von Condé Nast International, Wolfgang Blau, Texte.

In den vergangenen Monaten gingen in Deutschland immer mehr kuratierte Journalismus-Plattformen online. "Empfehlungen, nicht nur von Freunden wie in den sozialen Netzwerken, sondern von Experten, helfen, sich zurechtzufinden in der Informationsflut, mit der wir täglich konfrontiert sind", sagt die Medienwissenschaftlerin Annika Sehl, die am Reuters Institute for the Study of Journalism an der Universität Oxford forscht. "Außerdem bieten Plattformen wie Blendle, Niuws oder Piqd die Möglichkeit, den Nachrichtenstrom zu personalisieren und so den eigenen Interessen und Bedürfnissen anzupassen."

"Wir sagen nicht nur, was die Leute lesen sollen, sondern auch, warum."

Auf Blendle wird jeder Artikel mit ein paar Sätzen des Kurators eingeleitet. Manche posten ein Zitat aus dem Text oder eine Art Zusammenfassung, manche ordnen mehr ein: mal objektiver ("aufwendig recherchiert"), mal persönlicher ("kurz, knackig und zum Schmunzeln"). Anders, als es oft bei Online-Teasern und Facebook-Posts der Fall ist, soll das "Gericht" auch erfüllen, was die Ankündigung verspricht.

Das Münchner Start-up Piqd macht diese Einordnung sogar zu ihrem besonderen Merkmal. Auf der Plattform, die der Medien-Investor Konrad Schwingenstein gegründet hat, erklären Experten jeweils in einem Pitch-Text, warum man sich ausgerechnet für diesen Text Zeit nehmen soll. "Programmzeitung für das gute Netz" nennt Piqd-Geschäftsführer Marcus von Jordan die Plattform: "Wir sagen nicht nur, was die Leute lesen sollen, sondern auch, warum." Tatsächlich funktionieren viele der kurzen Texte wie Rezensionen, manche Experten geben sich mehr Mühe, posten mehrere einordnende Absätze, andere schreiben als Einschätzung nur "lesenswert" oder "habe ich gern gelesen". Enttäuscht wird man von den empfohlenen Texten dennoch fast nie.

Aktuell gibt es bei Piqd 13 Themenkanäle, mit Titeln wie "Feminismen", "Klima und Wandel", "Netz und Politik". In "Literatenfunk" rezensieren Schriftsteller wie Nora Gomringer, Saša Stanišić und Annika Reich Bücher. Unter den mehr als 60 Experten - ein Drittel weiblich - sind Journalisten, Autoren, Bundestagsabgeordnete, Wissenschaftler und Aktivisten. Im Kanal Politik & Netz postet nicht nur der Netzpolitische Sprecher der Grünen, Konstantin von Notz, sondern auch die CSU-Bundestagsabgeordnete Dorothee Bär, man ist um Diversität bemüht. Die empfohlenen Texte stammen von deutschen und internationalen Nachrichtenseiten und Blogs.

Bisher musste man Newsletter abonnieren oder anderen Menschen auf Twitter folgen, um Leseempfehlungen von ihnen zu bekommen. In den vergangenen Monaten kamen immer mehr kuratierte Angebote dazu. Die Nachrichten-Apps Upday (Axel Springer) aus Berlin und Updatemi aus Österreich lassen Inhalte von einer Redaktion kuratieren, bei Upday sollen zudem besondere Algorithmen dem Leser den Überraschungseffekt der klassischen Zeitung bieten: das zu finden, was er gar nicht gesucht hat. Bei Pocketstory aus Hamburg werden tagesaktuelle Hintergrundstücke wie bei Blendle nach dem iTunes-Prinzip einzeln für Cent-Beträge verkauft.

Empfehlungen sprechen heute zunehmend Algorithmen aus, beim Online-Kauf ebenso wie auf Facebook. Auch Blendle veröffentlicht seit ein paar Wochen die meistverkauften Artikel in einer Art Chart, und verweist auf Trendware. Man kann den Trend zum kuratierten Journalismus als Gegenbewegung dazu begreifen. "Wenn man sich nur darauf verlässt, was am besten performt, verschwindet das Hintergründige." Auch Peter Hogenkamp, CEO des Nachrichten-Start-ups Newscron in Zürich und ehemaliger Digital-Chef der NZZ, setzt darum mit der App Niuws auf menschliche Wahl - nach einer Vorauswahl, die eine Software anhand von Social-Media-Erfolg und Lieblingsquellen des Kurators trifft. Insgesamt 60 Leuten empfehlen bei Niuws in Themenboxen, die karriereorientierter und spezieller sind als die Kanäle bei Blendle und Piqd. "Man snackt sich den ganzen Tag durch Informationen und durch Facebook und hat am Ende nichts gelesen", sagt Hogenkamp. Das Kuratieren sieht er als "gutes Gegengewicht zur Banalisierung der Newswelt".

Auf Twitter und Facebook sind sowieso schon längst alle irgendwie Kuratoren

Viele Angebote lassen Algorithmen und Menschen zusammen arbeiten, wenn es um Empfehlungen geht. Gerade Persönliches scheint zu funktionieren. Bei Blendle kann man Artikel zurückgeben, wenn man nicht zufrieden ist. Die Rückgaberate im Newsletter sei aber unter drei Prozent, sagt Michaël Jarjour. "Ein Mensch kann flexibler entscheiden und auch komplexere Kriterien für empfehlenswerte Beiträge heranziehen als ein Algorithmus, wie etwa den Stil einer Reportage", sagt die Journalismusforscherin Annika Sehl. "Algorithmen beziehen ihre Auswahl auf vorab festgelegte und definierte Kriterien, beispielsweise darauf, was oft geklickt, geliked, geteilt oder kommentiert wird." Menschen spüren, ob ein Text sie glücklich oder traurig macht, und wissen, ob der Text gut geschrieben, toll recherchiert und klug ist.

Auch das Kuratieren selbst hat sich zum Trend entwickelt, manche Journalisten empfehlen auf mehreren Plattformen, sehen das als Möglichkeit, sich ein Profil zu schaffen. Piqd hat aktuell 1250 Abonnenten und bekommt täglich Bewerbungen als Experten. Niuws, seit knapp einem Jahr online, hat 10 000 User und eine Warteliste mit Kuratoren. Bei vielen Plattformen versteht man das Kuratieren als Form des Journalismus. "Auf Twitter und Facebook sind wir alle Kuratoren", sagt Michaël Jarjour von Blendle. "Wir machen das professionalisiert. Wir machen Journalismus über Journalismus."

Auch dazu gibt es schon einen Gegentrend: Auf Piqd sollen die User bald Experten ausblenden können, auch einen Schieberegler kann sich von Jordan vorstellen, mit dem man einstellen kann, wie viele Empfehlungen man bekommen will. Und wann man einfach selber herausfindet, was einem gefällt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: