"Das unsichtbare Mädchen" auf Arte:Mörderische Grenzland-Erfahrung

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Ein Mädchen ist verschwunden - in Bärental, im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Wochenlang sucht man nach ihr oder ihrer Leiche, doch die aufwändige Suche bleibt erfolglos. Dominik Grafs "Das unsichtbare Mädchen" ist ein fränkischer "Film noir". Lokal inspiriert, hat er den Drive des amerikanischen Kinos - aber kein Interesse an der Wahrheit.

Fritz Göttler

Tornados donnern übers Bärental - eine der Schlagzeilen im Jahr 2001, zum aufsehenerregenden "Fall Peggy". Das öffentliche Interesse war gewaltig, gespannt verfolgte man den Verlauf der polizeilichen Ermittlungen. Im Mai war die neunjährige Peggy auf dem Weg von der Schule nach Hause verschwunden, man suchte tage- und wochenlang nach ihr oder nach ihrer Leiche. Auch Bundeswehr-Tornados wurden losgeschickt, auf Aufklärungsflüge über die Wälder um die oberfränkische Stadt Lichtenberg, im deutsch-tschechischen Grenzland. Bärental nennt man die Gegend dort.

Ronald Zehrfeld ist ein Troubelmacher. Am Gürtel trägt er ein Jagdmesser. Er rollt den Fall wieder auf, unter dessen Fluch die Stadt leidet. (Foto: ZDF/ Julia von Vietinghoff)

Der Film Das unsichtbare Mädchen ist kein Versuch, den Fall authentisch zu rekonstruieren - das Faktische hat den Regisseur Dominik Graf in all seinen Polizeithrillern immer nur am Rande interessiert. Er will den Sog einfangen, den dieses Verschwinden bis heute entwickelt, das Geflecht aus Beschuldigungen und Lügen, Obsessionen und Aggressionen. Das Mädchen blieb verschwunden. Aber einen Täter hat man gefunden, einen geistig behinderten Jungen, der schon mehrfach aufgefallen war. Er wurde verhaftet, verhört, wegen Mordes verurteilt, sitzt bis heute in Haft. Entscheidend war ein Geständnis, das der Junge unter Druck lieferte - und zwei Tage später widerrief. Der Fall beschäftigt die Menschen der Region noch immer. Womöglich wird es in diesem Jahr eine Wiederaufnahme des Verfahrens geben.

Keine Leiche, nicht die geringste Spur, die den Verurteilten belasten könnte, Zeugenaussagen, die nicht wirklich beachtet oder gar ignoriert wurden - für die Filmemacher ist die Sache eindeutig: ein Justizirrtum. Friedrich Ani und seine Lebensgefährtin Ina Jung, die gemeinsam das Drehbuch schrieben, sind voll Partei und haben die Geschichte radikal in ihrem Sinne dramatisiert: in ihrer Handlung geht es um behördliche Manipulation und Korruption, um eine Intrige, die in die politische Spitze führt, und in der das Innenministerium einen Soko-Leiter ablöst, damit ein anderer die nötigen Ergebnisse bringt.

Ihr müsst mich covern, verlangt er im Film - grandios fies gespielt von Ulrich Noethen - von seinen Vorgesetzten, covern bis zum Gehtnichtmehr. Film als Kampf-Instrument: Man müsse alles tun, damit der unschuldig Verurteilte wieder in Freiheit komme, haben Ani und Jung vorigen Herbst in Hof erklärt, als Das unsichtbare Mädchen auf dem Filmfestival dort für Furore sorgte.

"Die schwarze Serie wird nie aussterben"

Dominik Graf hat diese Correctness-Tendenz ins Irreale, ins Surreale getrieben, er schaut nach ihrem "Was wäre, wenn"-Effekt: Was wäre, wenn das verschwundene Mädchen heute noch leben würde . . . Die Wirklichkeit seiner Filme ist die der Phantasmen, all der Albträume, die einem körperlich zusetzen. Es gibt Momente in diesem Film, die sind unsagbar schmerzlich. Ein alter Ex-Kommissar - Elmar Wepper als erster Soko-Leiter - kommt nicht los von dem Fall, er schlurft gebeugt durch die Straßen, als wäre er persönlich verantwortlich für das unsichtbare Mädchen. Ein neuer Kollege kommt in die Stadt - der Tanner, unser Berliner Kindl, sagt Noethen sarkastisch. Ronald Zehrfeld spielt ihn, der schon in Grafs Serie Im Angesicht des Verbrechens spielte und gerade in Christian Petzolds Barbara zu sehen ist. Am Gürtel trägt er ein Jagdmesser. Ein Troublemacher. Er wird neugierig, rollt den alten Fall wieder auf, unter dessen Fluch die Stadt leidet. Er ist ein Erlöser, aber selbst erlösungsbedürftig.

Das unsichtbare Mädchen ist fränkischer film noir, die Geschichte ist lokal inspiriert, aber der Drive des Films kommt vom amerikanischen Kino, Sam Fuller und Robert Aldrich, und vom Hard-boiled-Roman, Hammett und Chandler. "Die schwarze Serie wird nie aussterben", hat Dominik Graf mal geschrieben, "und ihre besten Filme werden immer als Film pur daherkommen. Ganz dem Detail, dem jeweiligen Moment hingegeben."

Atemberaubend, wie Graf ahnungsvolle, fast mystische Verbindungen schafft zwischen Menschen und Schauplätzen und Szenen. Wie er wechselt zwischen dem introvertierten und dem extrovertierten Schmerz. Wie er die Einsamkeiten seiner Helden zusammenschließt. Graf macht ein Kino der Grenzerfahrungen, der Grenzland-Erfahrungen. Am Rande des Deliriums. Das Geschäft mit dem Sex, jenseits der Grenze, heißt es mal, hat die Liebe kaputtgemacht.

Das unsichtbare Mädchen, Arte, 20.15 Uhr.

© SZ vom 30.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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