News of the World: Britischer Boulevardjournalismus:Insel der Menschenjäger

Unlautere Recherchemethoden, heuchlerische Witwenschüttler und eine skrupellose Fotografenmeute - das Wesen des Boulevardjournalismus steht auch hierzulande oft in der Kritik. Der Skandal um "News of the World" zeigt jedoch, dass "Bild" und Co. noch lange nicht mit britischen Massenblättern mithalten können: Der Boulevardmarkt auf der Insel ist der brutalste der Welt.

Hans Leyendecker

Das Blatt sei "geschmacklos und abscheulich und appelliere "an die niedrigsten Instinkte ihrer Leser". Auf der einen Seite betreibe es Personenkult und sei gleichzeitig Spezialist im "Niedermachen von Personen, wenn sie ihr zu groß geworden sind". Zum Redaktionsalltag gehöre das "tägliche Eindringen in das Privatleben öffentlicher Personen".

News of the World Publishes Final Issue

"Man versucht, die Konkurrenz zu töten und will so verhindern, dass man selbst umgebracht wird": Der ehemalige Chefredakteur von News of the World, Piers Morgan, über die Konkurrenz britischer Boulevardblätter.

(Foto: Bloomberg)

Derart attackierte vor einigen Jahren der Literaturnobelpreisträger Günter Grass in einem Streitgespräch mit Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner die Bild-Zeitung. Heinrich Böll, ebenfalls deutscher Literaturnobelpreisträger, machte bei Bild "faschistische" Methoden aus und widmete dem Blatt 1974 eine Erzählung (Die verlorene Ehre der Katharina Blum). Günter Wallraff unternahm einen heldenhaften Selbstversuch, um die Bild-Methoden zu entlarven (Der Aufmacher. Der Mann, der bei Bild Hans Esser war). Und der Schriftsteller Gerhard Henschel veröffentlichte das Buch Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung.

Sind die Recherche-Praktiken der Zeitungen auf der Insel mit denen deutscher Zeitungen vergleichbar? Haben deutsche Boulevardmedien ähnliche Betriebsgeheimnisse wie die englischen Gossenblätter? War die nun eingestellte News of the World zumindest im Geiste ein Schwesterblatt von Bild?

Nein, das war sie sicher nicht. Die in Deutschland übliche Fixierung auf Bild umschreibt und problematisiert einen Teil des Unterschiedes. Bild verkauft derzeit täglich circa 2,9 Millionen Exemplare und besitzt, von einigen regionalen Besonderheiten abgesehen, in Deutschland mehr oder weniger eine Alleinstellung.

Auf der Insel kämpft ein halbes Dutzend größerer und großer Boulevardmedien um die Aufmerksamkeit beim Käufer. Das Selbstverständnis der Macher der Massenblätter ist in beiden Ländern sehr unterschiedlich. Wenn Kelvin Mackenzie, ein ehemaliger Chefredakteur des meistverkauften Boulevardblattes Sun, über seriöse Blätter wie den Guardian sprach, verwendete er den Kampfbegriff "unpopular press" - also ein bisschen weltfremd. Ernsthafte britische Kommunikationswissenschaftler führen häufig die Bezeichnung "popular press", wenn sie von Gossenblättern reden. Üblich war früher eher der Begriff "Red-Tops".

Seit November 2004 erscheinen auch Qualitätsblätter wie Independent oder Times nicht mehr als Broadsheets, als großformatige Zeitungen, sondern im kleineren Tabloid-Format des Boulevards. Der Umstand steigerte das Selbstwertgefühl der Boulevardleute erheblich. Sie gaben sich wie die Herren und posierten entsprechend. "Man versucht, die Konkurrenz zu töten und will so verhindern, dass man selbst umgebracht wird", hat der frühere News-of-the-World-Chefredakteur Piers Morgan einmal den darwinistischen Kampf der Blätter beschrieben.

Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, der Europas größte Boulevardzeitung seit Januar 2001 leitet, sieht Bild "in der gesellschaftlichen Mitte angekommen". Er möchte, dass Bild nicht Außenseiter, sondern Mainstream ist. Ein "Leitmedium" sei Bild geworden, sagt er nimmermüde: Bild Dir Deine Illusion.

Andererseits ist das Werben um Anerkennung auch rührend. Springer-Chef Döpfner, studierter Musikwissenschaftler, hat in dem Streitgespräch mit Grass erklärt: Für Medienkritiker gebe es "ambitioniertere Ziele" als Bild: "Das ist ungefähr so, als wenn Wagnerianer ihren Hass auf die leichte Muse immer wieder an Lehárs Operetten abreagieren".

Der britische Boulevardmarkt ist sehr brutal, er ist der brutalste der Welt. Der deutsche Boulevardmarkt ist das, trotz aller Ähnlichkeiten des Genres wie Fokussierung auf die vermeintlichen Interessen der Leser oder Sensationssucht, nicht. Wer in England keinen Erfolg hat, gilt in der Redaktion als Verlierer. Er braucht gar nicht mehr ins Büro zu kommen. Tricks, Legenden und Täuschung gehören zum Redaktionsalltag britischer Boulevardblätter.

News of the World war weit vorn. Beispielhaft für den Konkurrenzkampf und den gewöhnlichen Irrsinn ist eine eher harmlose Wal-Geschichte. Als vor einigen Jahren vor der Küste Englands ein solcher Koloss strandete, wurden Heerscharen von Reportern rausgeschickt, um Exklusives über das Schicksal des Tieres in Erfahrung zu bringen. Es war Januar, die Temperatur war entsprechend, und der Reporter eines Boulevardblattes kam auf die gesundheitsgefährdende Idee, ins eiskalte Wasser zu springen, um dem Wal beizustehen. Ein Fotograf seiner Zeitung hielt den Einsatz im Bild fest. Ins Meer zurückgeschoben hat der Reporter den Wal nicht, aber kein anderer war näher dran als er. Sensation, Sensation. Bei News of the World herrschte Entsetzen. Der entsandte eigene Mann war an Bord geblieben. Er wurde sofort abgelöst, der Neue erhielt den Auftrag, auf dem Meer die verlassene Wal-Familie zu suchen.

Deutsche Reporter kommen allenfalls auf die Idee, im Sommer gemeinsam mit einem Umweltminister ins Wasser zu springen, wenn der zeigen will, dass der Rhein wieder sauber ist. Hatz wie bei der Fuchsjagd gehört zum Instrumentarium des britischen Boulevardjournalismus. Unter der Überschrift: "Lebt ein Monster neben Ihnen?", veröffentlichte News of the World vor einigen Jahren 40 Namen und Adressen vorbestrafter Sexualstraftätern. Vermeintliche Kinderschänder wurden gejagt. Der Mob war unterwegs. Häuser wurden in Brand gesteckt. Zwei Verfolgte brachten sich um.

Das Leid des anderen

Bild hat vor fünf Jahren einen amerikanischen "Stadtplan der Sex-Verbrecher" gedruckt und gefragt: "Warum gibt es das nicht bei uns?" Auch hat Bild immer wieder Täter an den Pranger gestellt, aber nichts im Vergleich zur Menschenjagd auf der Insel. Vorne sein, das möchten alle Journalisten in der Regel. Aber auf das "wie" kommt es an. Polizisten zu schmieren, um Tipps oder Dokumente zu erhalten, war offenbar Routine bei News of the World, und die, die davon wussten, blieben sehr gelassen. In Deutschland würde systematische Beamtenbestechung eine Staatsaffäre auslösen, die nicht nur die Redaktions-, sondern auch die Verlagsspitze abräumen würde.

Korruptionsbekämpfung? Lange kein Thema!

Nach Angaben des britischen Abgeordneten David Hanson sind ein Polizist, der 2006 die ziemlich dürren Ermittlungen gegen News of the World wegen des damals schon bekannt gewordenen Abhörskandals leitete, und auch ein ehemaliger Ankläger bei Murdoch untergekommen. Das erinnert ein bisschen an das Chicago der zwanziger Jahre, als die Lastzüge der Alkoholschmuggler von weißbehandschuhten Polizisten auf Motorrädern eskortiert wurden.

In Großbritannien war Korruptionsbekämpfung viele Jahre kein großes Thema. Dabei war die Korruption bei Waffengeschäften nicht nur endemisch, sondern staatliche Organe verhinderten die Aufklärung. Es gab keine zentrale Behörde, die sich um diese Form der Kriminalität besonders kümmerte

Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Rechtslage wurde erst in diesen Tagen, also am 1. Juli, mit dem Inkrafttreten des Bribery Acts (Antikorruptionsgesetz), auf einen international anerkannten Standard gebracht. Persönlichkeitsrechte waren lange Zeit für Reporter auf der Insel ein Synonym für die Beschneidung von Pressefreiheit. Die Öffentlichkeit reagierte oft zynischer als das deutsche Publikum. Nichts ist interessanter als das Leid des anderen. Eine schwer kontrollierbare Presse, die den Mächtigen und Prominenten und besonders den Blaublütlern auf vielerlei Weise nachstellt, war erwünscht.

Der Einsatz von Privatdetektiven ist bei den britischen Boulevardblättern ein Teil des Rechercheprogramms. Es heißt, dass zwei Drittel der Boulevard-Titel auch sehr freie Schnüffler beschäftigen. Abhören wurde offenbar Standard. Das ist nicht investigativ, sondern kriminell.

In Deutschland geriet das Burda-Heft Bunte einmal ins Zwielicht, weil eine von ihr beauftragte Berliner Fotoagentur mit zweifelhaften Methoden das Privatleben der Spitzenpolitiker Horst Seehofer, Oskar Lafontaine und Franz Müntefering ausgespäht hatte oder ausspähen wollte. Der Stern berichtete dankenswerterweise in großangelegten Geschichten über die "Spitzel von Berlin" und den "Auftrag zum Abschuss". Die Bunte wehrte sich erfolgreich vor Gericht gegen den Eindruck, sie sei über die Recherchemethoden informiert gewesen. In England hätte vermutlich nicht mal der Guardian über die - aus britischer Sicht - Strolchereien groß berichtet.

Wenn die Unsauberkeit gewissermaßen systemimmanent ist, muss das System geändert werden. Natürlich sind Bild und die anderen hierzulande kein Betverein. Der auch in dieser Zeitung ausführlich beschriebene Fall des Schauspielers Ottfried Fischer, der sich von Bild unter Druck gesetzt sah und sich öffentlich wehrte, steht für Vieles. Er sei "ein Freund der Pressefreiheit, aber auch ein Feind der Erpresserfreiheit" sagte Fischer. Es gibt Ärgernisse, Grenzüberschreitungen en masse, auch noch Schlimmeres. Die Witwenschüttler, die mit Heuchelei und Zynismus bei den Hinterbliebenen Fotos von Opfern besorgen, die Bluthunde, die mit Kameras zur nächsten Massenkarambolage eilen und Großfeuer wegen der Bilder schätzen - das alles gehörte immer schon zu dem weiten Berufsfeld. Und neue Technik hat neue Möglichkeiten geschaffen. Aber das alles ist nicht vergleichbar mit den Zuständen auf der Insel.

Der in diesen Tagen bei Vergleichsversuchen auch geäußerte Vorwurf, im "Ethos von Bild" zähle das "Beschaffen aufregender Dokumente sicher mehr als das Einhalten von Gesetzen", führt übrigens in die Irre. Auch Qualitätsmedien müssen manchmal bei der Auswertung geheimer Unterlagen abwägen, was für das Gemeinwesen am Ende wichtiger ist: die Veröffentlichung von Missständen oder die Einhaltung von Geheimhaltungsvorschriften. Aber auf die Idee, das Handy eines entführten Mädchens zu manipulieren, um Botschaften der verzweifelten Eltern abfangen zu können, wie es News of the World gemacht hat, kann nur jemand kommen, der ein krankes Verständnis von Pressefreiheit hat.

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