Britische Zeitschrift "Economist":Eine Frau beerdigt sie alle

Britische Zeitschrift "Economist": Natürlich gab es im Economist Nachrufe auf Umberto Eco (o.l.), Boutros Boutros-Ghali, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Lemmy Kilmister und Harper Lee - aber auch auf einen Karpfen.

Natürlich gab es im Economist Nachrufe auf Umberto Eco (o.l.), Boutros Boutros-Ghali, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Lemmy Kilmister und Harper Lee - aber auch auf einen Karpfen.

(Foto: dpa, imago(3), Getty, AFP)

Ann Wroe schreibt seit Jahren jeden Nachruf im britischen "Economist", auf Prominente wie auf Unbekannte. Vor ihr sind alle gleich - selbst die Queen.

Von Viola Schenz

Wer ewig leben will, sollte sich um einen Platz in der Leichenhalle des Economist bemühen. Leichenhalle ("morgue") nennen sie dort die Computerdatei mit den bereits geschriebenen Nachrufen. Fidel Castro liegt dort, Robert Mugabe, George H. W. Bush, Papst Benedikt, der Physiker Steven Hawking, Jimmy Carter, die Queen. "Die meisten sind da schon sehr lange drin, besonders Fidel Castro, aber sie sterben nicht", sagt Ann Wroe und lacht. Wroe ist die Hüterin des "morgue", sie schreibt die Nachrufe, jede Woche auf der letzten Seite des Economist. Es ist die meistgelesene Rubrik des Nachrichtenmagazins, haben Leserbefragungen ergeben. "Das liegt nicht an mir, sondern daran, dass Menschen gerne über andere Menschen lesen", sagt sie.

Weibliches Understatement. Natürlich liegt es an ihr; Ann Wroe verwandelt den Tod in Lesefreude. Seit 40 Jahren arbeitet sie beim Economist, kam direkt von der BBC, kümmerte sich erst um Literatur und Kunst, dann um die USA-Themen. Seit den frühen 90er Jahren schreibt sie Nachrufe, seit 2003 macht sie das als alleinverantwortliche Redakteurin. Jede Woche ein Nachruf, jede Woche im exakt selben Layout. In Wroes Zeit wurden die "obituaries" zu Vorbildern für andere Blätter. "Obits", wie sie der Einfachheit halber genannt werden, sind in ihrer Art etwas sehr Angelsächsisches. Britische Zeitungen leisten sich dafür feste Seiten mit langen Stücken.

Um journalistische Moden schert man sich nicht beim Economist

Der Economist leistet sich Ann Wroe - und deren Marotten. Marotten sind aber sowieso das Merkmal des Magazins. 1843 gegründet, nennt es sich zum Beispiel beharrlich "Zeitung", wegen des knappen Redaktionsschlusses, verstehe das, wer will. Das recht hässliche Betonhochhaus in der Londoner St James's Street, in dem die Redaktion die Etagen 11 bis 14 belegt, passt so gar nicht in die edle Umgebung aus Backstein, Stuck und teuren Antiquitätenläden.

Britische Zeitschrift "Economist": Oxford-Historikerin mit Gespür für menschliche Eigenheiten: Ann Wroe, 65.

Oxford-Historikerin mit Gespür für menschliche Eigenheiten: Ann Wroe, 65.

(Foto: Viola Schenz)

Auch um journalistische Moden hat man sich in der langen Geschichte nie geschert: spröde Optik, Bleiwüsten, winzige Fotos, Kolumnen mit seltsamen Namen wie "Schumpeter", "Lexington" oder "Bagehot". Die Medienkrisen der vergangenen Jahre sind dem Economist wurscht, die Druck- und Digitalauflage ist weltweit auf 1,55 Millionen geklettert, die Zahl der Leser wächst, sie lieben das Blatt für all das, was es eben auszeichnet: witzige Titelseiten und Überschriften, scharfsinnige Analysen, fiese Karikaturen.

In Ann Wroes Totenreich gelten noch mal eigene Regeln: Verstorbene müssen nicht berühmt sein, sie müssen ein interessantes Leben geführt haben. Und so bietet Wroes sehr prominente Seite Geschichten über sehr unprominente Leute: einen haitianischen Voodoo-Priester, einen Schönheitschirurgen, eine Londoner Bordellbetreiberin, einen australischen Krokodiljäger, einen italienischen Franziskanerpater, die letzte Frau, die Eyak beherrschte, eine Alaska-Sprache. Selbst eine Katze und einen Karpfen hat Wroe verewigt. Natürlich endeten auch Helmut Schmidt, Boutros Boutros-Ghali, Margaret Thatcher oder Richard von Weizsäcker im Economist. Aber wirklich Bekannte kommen nur vor, wenn "auch wir sie nicht umgehen können".

Für kurze Zeit landete auch Bill Clinton in der Leichenhalle

In Sachen Tod herrscht beim Economist Egalität: eine Seite, zwei Spalten Foto, drei Spalten Text, im Schnitt 1000 Wörter lang. "Auch die Queen kriegt nur eine Seite", so Wroe. Keine Ausnahmen. Halt, stimmt nicht, der Nachruf auf David Bowie am 16. Januar hatte unorthodoxerweise zwei Seiten. "Ein Fehler", sagt sie, "ich habe mich auf der Konferenz breitschlagen lassen. Es lag so ein Ausnahmezustand über dem Land, als Bowie starb, er war das Idol all dieser Mittvierziger, die die Medienhäuser beherrschen - auch unseres." Dabei hat diese grauhaarige, zarte 65-Jährige mit der ruhigen Stimme eine Autonomie, und ja, auch eine Autorität, von der alle Redakteure überall nur träumen können. Wen sie am Montagmorgen als Nachruf vorschlägt, findet zu "99 Prozent" Zuspruch, auch von Chefredakteurin Zanny Minton Beddoes, und auch wenn keiner je etwas von dem oder der Verstorbenen gehört hat. "Doch genau damit erfüllen wir die Erwartungen: Unsere Leser wissen, dass sie nur bei uns solche Entdeckungen machen, in keiner anderen Zeitung."

Aber wie erfährt man, dass jemand Unbekanntes gestorben ist? Da sei sie auf Hinweise angewiesen, sagt Wroe, von Lesern, von Kollegen. Das gilt auch für die prominenten Kandidaten; Wroe kann von ihrem winzigen Büro im 13. Stock nicht der ganzen Welt ständig den Puls fühlen. Kürzlich wies sie der Washington-Korrespondent darauf hin, dass Bill Clinton bei einer Wahlkampfrede für Hillary blass und dünn aussah. Wroe recherchierte einen Entwurf für die "morgue". Dann stellte sich heraus, dass er von einer Vegandiät so geschwächt wirkt. Und jetzt? "Raus aus der morgue, aber unter Beobachtung." Sorry, Bill.

Apropos Recherche, noch so eine Eigenart: Wroe vertraut ganz auf Primärquellen: Interviews, Reden, Aufsätze, Blogs, Bücher - alles, was Verstorbene selbst gesagt oder geschrieben haben. Sie will deren Leben aus deren Sicht schildern. Interviews zu Lebzeiten sind für Wroe genauso tabu wie Gespräche mit Angehörigen oder Freunden. Was sind die schwersten Fälle? Schriftsteller, "weil ich da in kürzester Zeit noch mal durch die Werke muss".

Das Rezept für einen guten Nachruf? Kein Rezept

Auf der Montagmorgenkonferenz wird über den Nachruf entschieden, Dienstagnachmittag sollte er fertig sein. Gedruckt wird zwar erst donnerstags, aber Wroe muss oft noch das USA-Ressort mitbetreuen. Zwischen Dienstagnachmittag und Donnerstagmorgen sollte also niemand Berühmtes sterben, "und die meisten halten sich zum Glück daran". So auch Harper Lee und Umberto Eco, beide starben am 19. Februar, einem Freitag. Und weil sich Wroe nicht entscheiden konnte, wer von beiden bedeutender war, gibt es diese Woche schon wieder eine Ausnahme: Lee und Eco teilen sich auch Wroes Nachruf.

Wer so viel in so kurzer Zeit recherchieren muss, hat vermutlich besonders raffinierte Methoden. Von wegen. "Ich google wie blöd", sagt Wroe. Aber, jetzt kommt es: "Nicht nach Offensichtlichem, sondern nach Abseitigem." Manchmal gebe sie Zufallsbegriffe ein und lasse sich treiben. Natürlich wird alles gegengeprüft, man hat schließlich den Economist-Ruf zu wahren. Und noch ein banales Werkzeug nutzt sie: "Ich suche Youtube ab, denn ich muss wissen, wie sich die Person bewegte, wie es wirkte, wenn sie einen Raum betrat, wie sie klang." Ein Erbe aus ihrer Zeit bei der BBC, wo man eben audiovisuell denkt.

Was ist das Rezept für einen gelungenen Nachruf? Es lautet: kein Rezept. Keinem Muster folgen; nicht chronologisch vorgehen; niemanden glorifizieren, sondern Schwächen erwähnen und damit das Menschliche, etwa den braunen und den schwarzen Schuh, den Gerald Ford bei seiner Hochzeit trug; Charakteristisches in vermeintlich unwichtigen Details erkennen. Und nie schreiben, wie und woran jemand gestorben ist, Nachrufe sollen das Leben feiern, findet sie.

Beim Economist verzichten sie auf Autorenzeilen, alle schreiben anonym

Das Talent, sich in kürzester Zeit in die unterschiedlichsten Menschen und Welten zu versetzen, hat Wroe, die Mittelalterhistorikerin mit Oxford-Doktortitel, aus dem Studium mitgebracht und als Buchautorin bewiesen. Sie hat erfolgreiche, teils preisgekrönte Bücher verfasst, über Pontius Pilatus, über die Iran-Contra-Affäre oder über Orpheus. Immer ging es darum, aus sehr wenigen kleinen Puzzleteilen ein Gesamtbild zu bauen. Sie hat sich das Privileg erschrieben, ihrem Verleger fertige Manuskripte in die Hand zu drücken, ohne jemals Thema und Inhalt besprochen zu haben. Derzeit sitzt sie an einem Buch über "das Licht". Wroe recherchiert immer alles allein. Je weniger über jemanden vorliegt, desto besser, zu viel Material verstelle den Blick aufs Wesentliche.

Beim Economist schreiben alle anonym, einschließlich Chefredakteurin, es gibt keine Autorenzeilen. Diese Eigenart widerspricht jeder journalistischen Eitelkeit, ihrer Arbeit aber kommt sie entgegen. "Es hilft noch mehr, sich selbst zurückzunehmen und zu versuchen, alles aus der Warte des Verstorbenen zu sehen." Und: "Wer mich kennen will, kann mich kennenlernen" - mit ein paar Klicks auf der Website. Verheiratet, drei erwachsene Söhne, erfährt man. Deprimiert sie ihre Arbeit manchmal? Nein, sie zeige doch, was Menschen alles aus ihrem Leben machen, und sie sorge dafür, dass die Erinnerung daran erhalten bleibt. Obwohl, auch hier gibt es Ausnahmen. Als Ingmar Bergman starb, und sie sich die lange Montagnacht durch seine schwermütigen schwedischen Filme zappte und am nächsten Morgen "halbsuizidal" zu schreiben begann.

Es geht nicht immer logisch zu beim Thema Tod. Weil die "Obits" so populär sind, gab Wroe 2008 ein "Best of" als Buch heraus. Es floppte. "Niemand will den Tod bei sich daheim im Regal stehen haben", meint sie. Zum Tod braucht man Abstand, weshalb auch kaum jemand neben der meistgelesenen Seite des Hefts inserieren will. Neben den "Obituaries" stehen seit Jahren Eigenanzeigen des Economist.

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