Berichterstattung über Fußball-WM:"Das ist sprachlicher Schrott"

08 06 2018 Fussball Nationalmannschaft Laenderspiel Nationalteams Deutschland Saudi Arabien 2

"Die drittdümmste Erfindung der Menschheitsgeschichte" nennt Jürgen Roth die Interviews nach dem Spiel am Spielfeldrand

(Foto: imago/Team 2)

Die Distanz ist weg, die Qualität auch: Fußballberichterstattung ist laut Jürgen Roth nur noch Marktschreierei im Dienst der nationalen Sache. Der Schriftsteller analysiert sie seit Jahren - mit verheerendem Ergebnis.

Interview von Thomas Hummel

Jürgen Roth, 50, beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Sprache rund um den Fußball. Der Schriftsteller aus Frankfurt hat mehrere Bücher dazu geschrieben, das aktuelle heißt "Nie mehr Fußball!" und ist in großen Teilen eine Abrechnung mit dem Medienbetrieb.

SZ: Herr Roth, mehr als vier Wochen Fußball-WM stehen an. Teilweise drei Spiele am Tag, Berichterstattung fast rund um die Uhr.

Jürgen Roth: Mich schaudert.

So schlimm? Wovor graut es Ihnen denn so?

Wir bekommen wieder ein riesiges Ausmaß an Anschleimeritis vorgesetzt. Es gibt so etwas wie Sport-Journalismus im Fernsehen nicht mehr. Den hat es mal gegeben. ZDF-Reporter Harry Valerien hat sich bei der WM 1982 erdreistet, Paul Breitner zu sagen, so könne man nicht mit Journalisten umgehen. Breitner müsse sich auch Kritik gefallen lassen. Heute gibt es keine Kritik mehr. Als Mehmet Scholl 2012 während der EM zu dem wunderbaren Bild griff, er sorge sich darum, ob man Mario Gomez mal wenden müsse, weil er sich sonst wundlege, war die Entrüstung groß. Das ist grotesk. Was heute im Fernsehen verlangt wird, ist ein Gefolgschafts-Journalismus, ein Jubelpersertum, das sich in den Dienst der Sache, also der Mannschaft stellt. Denn das sind ja "Wir". Es ist das große "Wir", das über allem schwebt. Es wird auf alles eine große, grelle Sprachtapete geklebt, um Fußball und Sport allgemein als nationalistisch bewegendes Ereignis zu inszenieren.

Das klingt sehr nach: Früher war alles besser.

Teilweise gab es das früher auch schon. Ich erinnere an Klaus Angermann vom ZDF, der beim Radfahren außer Rand und Band geriet.

Wie sähe die Alternative aus, die Ihnen vorschwebt?

Das Fußballspiel, das sich am allertiefsten in mein Herz gegraben hat, war das Halbfinale 1982 Deutschland gegen Frankreich. Mit dem Schumacher-Foul gegen Battiston. Da kommentierte Rolf Kramer. Was war das für ein Reporter-Stil! Eine ungeheure Zurückhaltung, eine Dezenz. Die Rudi-Michel-Schule. Die Vermeidung jeglicher Erregung, Übersteigerung, Aufstachelungs-Rhetorik. Eine bewusste Unterkühlung. Das waren Grandseigneurs.

Das nennt man wohl: alte Schule.

Vor drei Jahren habe ich einen Vortrag vor den Kommentatoren und Field-Reportern bei Sky gehalten. Darin habe ich eine Sequenz aus dem Finale gegen England 1966 im O-Ton vorgespielt. Rudi Michel kommentierte. Helmut Haller schießt das 1:0 und Michel sagt: "Haller. Tor." Dann lässt er die Kulisse 36 Sekunden lang stehen. Dann sagt Michel: "Haller - mehr muss ich ja nicht sagen."

Wie reagierten die Reporter darauf?

Nicht alle waren begeistert. Aber Fritz von Thurn und Taxis, den ich sehr schätze, kam zu mir und sagte: "Ich hatte vergessen, so könnte man es auch machen."

Und: Könnte man das heute noch so machen?

Warum denn nicht? In der Auslassung kann ein Gewinn liegen. Weil man damit zeigt, dass das Ereignis größer ist als die Worte, mit denen man es beschreiben möchte. Der Sport ist immer größer als das, was über ihn erzählt wird. Deshalb gibt es auch keine vernünftigen Fußballfilme. Weil das Spiel größer ist als jede künstlerische Bearbeitung. Heutzutage verstehen sich Kommentatoren wie Wolff-Christoph Fuss als Dramaturgen einer Sache, mit der sie nichts zu tun haben. Sie sollten diese Sache lieber zur Geltung kommen lassen.

Gibt es für diesen Stil aktuelle Beispiele?

Nach dem 7:1 gegen Brasilien ist ZDF-Mann Béla Réthy sehr dafür gescholten worden, dass er während des Spiels fast nichts gesagt hat. Ich empfand das als Glanzleistung, vollkommen angemessen. Die Qualität von Fußball-Kommentatoren besteht darin, in der Dezenz das Spiel atmen zu lassen.

Heute gilt: Wer schreit, hat recht

Da dürfte Ihnen der neueste Trend nicht gefallen: Bei Olympia grölten und jubelten Eishockey-Kommentator Gerhard Leinauer und Experte Patrick Ehelechner von Eurosport bei den deutschen Spielen wie die Leute in der Fankurve.

Die beiden sind ja nicht mal mehr Cheerleader. Cheerleader reflektieren wenigstens, was sie tun. Das ist völlig entfesselte Ekstase, im Sinne der nationalen Erregung. Das hat mit Journalismus nichts mehr zu tun.

Jürgen Roth

"Heute gibt es nur noch Sensationalisierung", sagt Jürgen Roth über Fußball-Berichterstattung.

(Foto: privat)

Wenn man Zuschauer befragt, sagen nicht wenige: Das find ich gut. Endlich mal jemand, der emotional wird.

Sportübertragungen sind heute Gottesdienste. Es geht nicht mehr um Berichterstattung, sondern um Ereignisgestaltung. Und dabei muss jeder auf sich aufmerksam machen. Früher hieß es einmal: Wer schreit, hat unrecht. Heute gilt: Wer schreit, hat recht. Das ist der Kulturbruch.

Wann hat der eingesetzt?

Als das Privatfernsehen in den Neunzigerjahren die Fußballrechte gekauft hat, wurde erstmals die Trennung zwischen Journalismus und Ereignis aufgehoben. Da begann die zutiefst korrupte Komplizenschaft zwischen beidem. Und mündete in ein brutales Vermarktungsdenken, das es einem Sportkommentator fast unmöglich macht, eine Nicht-Marktschreier-Haltung einzunehmen. Er ist der Verkäufer.

TV-Reporter, die sich den alten Werten verpflichtet fühlen, sind in einem Dilemma. Wie sollen sie die Erwartungen an ihren Beruf erfüllen?

Das sind arme Säue. Die stehen unter einem ungeheuren Konkurrenzdruck untereinander. Sie müssen sich ihre Plätze erkämpfen und verteidigen. Nur aus der gehegten, geschützten Ecke des öffentlich-rechtlichen Fernsehens heraus konnten früher Leute wie Fritz von Thurn und Taxis, Günter-Peter Ploog oder Marcel Reif gedeihen, die eine Distanz zum Geschehen pflegten. Selbst Wolf-Dieter Poschmann schätze ich im Nachhinein sehr. Er hat Doping schöngeredet, aber er hatte einen eigenen Stil: Er benutzte Sportvereinssprache. Das gibt's heute nicht mehr. Heute gibt es nur noch Sensationalisierung.

Die Interviews direkt nach dem Spiel noch auf dem Platz nennen Sie "die drittdümmste Erfindung der Menschheitsgeschichte".

Ja, weg damit! Einfach weg damit!

Ist es nicht verständlich, dass sich Fußballer ein paar Floskeln zurechtlegen, um unbeschadet aus der Nummer rauszukommen?

Ich bin da voll auf der Seite der Fußballer. Und auch auf der Seite der Reporter. Ich glaube, alle wissen, dass sie hier etwas tun, was niemand tun will. Sie sind sich der Nichtigkeit bewusst. Aber es muss Sendezeit gefüllt werden. Deshalb verstehe ich gut, dass die Fußballer sagen: Ich ziehe mich in einen rhetorischen Panzer zurück und gebe das von mir, was 398 Kollegen auch schon von sich gegeben haben.

Zum Beispiel den derzeit beliebtesten Satz nach einer Niederlage: 'Wir haben uns nicht belohnt'.

Ja, genau! Da gibt es noch 15 weitere Sätze, damit können sie jedes Field-Interview zusammensetzen. Das ist sprachlicher Schrott. Aber sie müssen halt die zehn Minuten bis zum nächsten Werbeblock füllen.

Daran nehmen dann auch die sogenannten Experten der TV-Sender teil. Sie haben Mehmet Scholl als Lichtblick beschrieben. Der ist nicht mehr dabei. Sehen Sie neue Hoffnungsträger?

Es gibt sie schon. Oliver Kahn hat sich zum Beispiel sehr gut entwickelt. Er nimmt sich inzwischen heraus, zu erklären: Er habe zu dem Spiel nix zu sagen. Es sei sinnlos, dieses Spiel zu analysieren, weil es einfach Murks war. Das war bei der EM 2016 ungeheuer wohltuend.

Was prognostizieren Sie der Sportberichterstattung in der Zukunft?

Ich habe zwei Vorstellungen. Die eine ist die apokalyptische, also der Zusammenbruch, weil man den Sport nicht mehr so verwerten kann wie bisher. Im Moment spricht allerdings deutlich mehr dafür, dass es schlichtweg so weitergeht. Das System Fußball als von den Medien gespiegelte Geldmaschine wird so lange existieren, wie es die Menschen mitmachen. Und da die Leute in der Regel alles mitmachen, solange der Strom nicht ausfällt und es Brot im Supermarkt gibt, wird es einfach so weitergehen.

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