Bayern:Leberknödelsuppenblues

Die Doku "B 12 - Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens" singt das Lied von der Raststätte. Selbstverständlich bairisch. Und der BR vergeigt's.

Von Willi Winkler

Die B 12, das nur für Landesfremde, verläuft von Lindau am Bodensee als Diagonale quer durchs südliche Bayern, berührt Buchloe und Landsberg, durchquert München als B 2 und A 94, und erreicht endlich hinter Passau die tschechische Grenze. Aus dem Autoradio kennen selbst Italien-und Österreichfahrer diese Bundesstraße, weil südöstlich von München, wo sich die besseren Vororte in den Ebersberger Forst hineinfressen, am Wochenende junge Menschen keinen besseren Zeitvertreib kennen, als sich zu Tode zu rasen, was für Franken, Westfalen, Kroaten und andere Ausländer doch nur wieder Ärger bedeutet und noch eine Verkehrsbehinderung.

An einer Weggabelung, beim auch sonst wenig schönen Flecken Hohenlinden, steht das Rasthaus B12, ein Hotspot für die nähere Umgebung, ein Boxenstopp für Trucker aus ganz Europa und jetzt Schauplatz einer vom Bayerischen Rundfunk mitfinanzierten Doku, die so ungewöhnlich, so rar, so gut ist, dass sie erst in zwei Jahren im Fernsehen gezeigt werden kann.

Beim Imbiss besprechen sie, wer jetzt schon alles gestorben ist

B 12 heißt diese Langzeit-Studie von Christian Lerch vorschriftsmäßig schlicht und verspricht im Untertitel ganz und gar Unmögliches, eine "Suche nach dem Sinn des Lebens". Doch wo ließe sich der andererseits besser erfahren, als in dieser Elendsöde des Überlandverkehrs zwischen Mittel- und Südosteuropa, wo jeder mit 100 km/h überfahrene Igel von der Endlichkeit alles irdischen Treibens kündet?

Das geht schon los mit dem Mann, der sein ausgebautes künstliches Hüftgelenk mit Gewinde und Kugel und Nut präsentiert, was aber vielleicht doch weniger Eindruck macht als ein hochfrisiertes Auto mit fremdem Nummernschild. "Österreicher!", rufen sie ihm nach. Das ist die historische Verankerung dieser 21 Szenen aus dem wirklich wahren Leben: Vor genau 217 Jahren wurde hier eine der größeren napoleonischen Schlachten geschlagen (die Österreicher haben natürlich verloren). In den Schlachten der Gegenwart geht es um die Belang- und Ereignislosigkeit der normalsterblichen Existenz.

Titel: B12 - Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens;

Gott, die Welt und die Qualität der Weißwürste: In B 12 besprechen Männer wie der Mane die entscheidenen Fragen des Lebens.

(Foto: Filmproduktion GmbH/Johannes Kaltenhauser)

Die blonde Sängerin zeigt ihr Wohnmobil und ihre noch blonderen Tina-Turner- und Marilyn-Monroe-Perücken. Der Mane steht draußen und kassiert zehn Euro von jedem Laster, der auf den Parkplatz will. Beim Imbiss unterhalten sie sich darüber, wer jetzt schon alles gestorben ist oder über den kleinen Toni, der so ein Krischperl war, dass er die Bierflasche kaum halten konnte.

Da zieht dann ein Thomasbernhard'scher Grusel leise durchs Gemüt, erst recht, wenn die Männer auch noch lachen, aber schließlich geht es in diesem Epos von der Landstraßenseite wie schon erwähnt um den Sinn des Lebens, und der ist nun einmal schwer zu fassen.

Giuseppe eröffnet vorn am Rasthaus einen Imbiss. Besonders gut Deutsch kann er nicht, er ist aber mit südländischem Fatalismus gesegnet, spricht vom Potenzial, das ihm der Besitzer zutraut, und von seiner Hoffnung, dass es was wird mit dem Geschäft. Er hat die Tische straff bespannen lassen, in der Küche wird kurzgebraten, die Mädchen spielen auf ihren Tablets, die Frau ist hochschwanger, die Bedienung will anfangen, aber dann fällt der Strom aus. "Das kann nicht sein, echt", heißt die Episode. Doch, es kann.

Das Leben, sagt er, "ist mir direkt vor den Augen davongelaufen"

Obwohl es überwiegend Männer sind, die hier beim Flaschenbier über Gott, die Welt und die Qualität der Weißwürste perorieren, kommt die viel besprochene Gender-Frage keineswegs zu kurz. Bewusst habe er sich eine "brave Frau" gesucht, erzählt einer von seiner, und dass sie noch heute alles für ihn mache. Praktischerweise habe sie keinen Führerschein, das Auto bleibt da und sie daheim und rennt wenigstens nicht immer zum Friseur.

Der Lenz, der Wirt, hat vor Jahren eine Bedienung geschwängert und sie dann fortgeschickt. Der wollte immer frei sein, sagen die Leute. War halt so, sagt er selber. Fremdarbeiter aus Polen hatten sie, waren aber immer gut zu ihnen. Die haben 1945 für sie gebürgt, deshalb galten sie den Amerikanern nicht als Nazis und blieben ungeschoren. 88 ist der Lenz, liest als Padrone die Bild-Zeitung und weiß aus eigener Lebenserfahrung, dass es einen Gott geben muss, weil er immer so davongekommen ist. "Deutschland oder Hamburg" hätte er gern gesehen, aber da war nie Zeit, nur Arbeit. Das Rasthaus hat er modernisiert, hat angebaut, erweitert, der Parkplatz für die Laster, die Truck-Show, die bei ihm stattfindet. Das Leben, sagt er, "ist mir direkt vor den Augen davongelaufen".

Er sagt es natürlich nicht hochdeutsch, alles kann er auch wieder nicht. Die Leute im Rasthaus, vor allem die Stammgäste, sind der Landessprache so kundig, dass schon die Münchner sie kaum verstehen werden. Die Serie wäre es aber wert, allein ihretwegen Bairisch zu lernen.

Die Langzeitbeobachtung ermöglicht es, dass der Lenz dann doch hinfällig wird, aber der Mane ist da und macht ihm eine Leberknödelsuppe. Die Menschen hier an der B 12 - die Voyeure vom Ort wie die auf der Durchreise - müssen einfach glücklich sein.

Und jetzt zum BR. Wie kann man ein solches Juwel, ein Adventsgeschenk, im Web zerstückeln und verkümmern lassen? So nett es ist, diese Alltagsszenen aus der Niemandsbucht in Single-Form portioniert feilzubieten, die Melancholie erschließt sich doch erst am Stück, erst im Großen, Ganzen wird daraus ein Ereignis, ein Ereignis, auf das gedachter BR schnöd verzichtet. Aber was soll's, B12 sollte zunächst - bevor das dann wieder abgesagt wurde - eh um halb eins in der Nacht an diesem Mittwoch versendet werden, wenn der Trucker in seiner Schlafkabine liegt und von den schönsten Autobahnen Europas träumt. Was für ein Verbrechen an der Filmkunst!

Das Licht geht dann übrigens doch wieder an bei Giuseppe, und die blonde Sängerin, eine andere diesmal, singt das unendlich traurige Lied von Billie Jo Spears, "Sing me an old-fashioned love song". Da muss dann gar keine Steel Guitar wimmern, wenn es doch dieses Rasthaus an der B 12 gibt, wo sich die Sinnfrage jeden Tag stellt und jeden Tag zuverlässig nicht beantwortet wird.

B 12 - Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens; www.br.de/mediathek

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