Arte-Doku:Fragen der Zeit

Arte-Doku: Zieh sie an, spring ins Becken, und schwimm: Paul Biedermann in einer Badehose, wie Mark Spitz sie trug.

Zieh sie an, spring ins Becken, und schwimm: Paul Biedermann in einer Badehose, wie Mark Spitz sie trug.

(Foto: Kristian Kähler)

In "Der wahre Champion" lässt ein Sportingenieur fünf aktuelle Spitzensportler unter Bedingungen von früher starten. Ein rührender Film über sportliche Rekorde gestern und heute.

Von Martin Schneider

Ein 100-Meter-Rennen vor drei Wochen im thüringischen Zeulenroda. Der Sprinter Julian Reus gewinnt, die Uhr bleibt bei 10,03 Sekunden stehen. Die Zeitungen schreiben: "Reus läuft deutschen Rekord", und in diesem Moment setzen sich Hunderte Menschen an ihre Rechner und schreiben wütende E-Mails. "Liebe Sportredaktion, brauchen Sie Nachhilfe in Sportgeschichte?", steht dann sinngemäß in vielen dieser Mails. "Wissen Sie nicht, dass Armin Hary 1960 in Zürich als erster Mensch überhaupt die 100 Meter in 10,0 Sekunden gelaufen ist? Wie können dann 10,03 Sekunden deutscher Rekord sein?"

Als Redakteur schreibt man dann zurück, dass Harys 10,0 Sekunden handgestoppt waren, elektronisch gemessen wären es wohl 10,25 Sekunden gewesen, und darum wird die Zeit nicht in den Rekordlisten geführt. Dann kommt meistens noch eine Mail, in der steht: "Aber Hary lief die Zeit auf einer Aschenbahn. Mit Startlöchern!" Und damit haben die Verfasser dieser E-Mails völlig recht.

Der Fernsehsender Arte hat sich nun mit genau diesem Phänomen befasst. Die Leistungen werden ja in fast jeder Sportart besser, die Trainingsmethoden ausgereifter, die Technik moderner. Aber wer bringt dann die Leistung? Woran liegt es, dass die Rekorde fallen? Am Sportler? An der Technik? An der Wissenschaft? Kann man die Leistungen der alten Aschenbahn-Helden mit den heutigen Karbonfaser-Athleten vergleichen?

In der Doku Der wahre Champion versucht der Sportingenieur Steve Haaks ein Experiment in fünf Sportarten: Sprinten, Bahnradfahren, Schwimmen, Speerwerfen, Kajak. Er hat fünf aktuelle Spitzensportler getroffen und sie unter den Bedingungen von früher starten lassen. Den kanadischen Sprinter Andre De Grasse (Dritter bei der WM 2015) lässt Haaks gegen Jesse Owens antreten, den Goldmedaillen-Gewinner der Olympischen Spiele von 1936. De Grasse hat eine Bestzeit von 9,92 Sekunden auf einer Laufbahn mit vulkanisiertem Gummi auf Polyurethan-Kammern. Jesse Owens lief 10,3 Sekunden auf Asche. Haaks besorgt De Grasse Schuhe von damals und lässt ihn Startlöcher graben.

Den deutschen Schwimmer Paul Biedermann, der den Weltrekord über 200 Meter Freistil hält, lässt Haaks unter den gleichen Bedingungen schwimmen wie Mark Spitz, der 1972 in München sieben Mal olympisches Gold holte. Biedermann stellte seinen Weltrekord mit einem Schwimmanzug auf, der so weit entwickelt war, dass der internationale Schwimmverband ihn mittlerweile verboten hat. Die Begriffe "technologisches Doping" und "Wettrüsten" fielen. Mark Spitz schwamm in einer Badehose mit Stars-and-Stripes-Muster. Also bringt Haaks Biedermann eine Badehose mit und sagt: "Zieh sie an, spring ins Becken, versuch, damit so schnell zu schwimmen wie Mark Spitz."

Es ist eine Spielerei, die die Filmer veranstalten, kein Experiment nach wissenschaftlichen Kriterien. Spitz und Owens traten in Wettkampfsituationen an, die Welt sah ihnen zu, als sie ihre Rekorde erreichten. Biedermann und De Grasse haben nur den Wunsch, die alten Helden mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Biedermann und De Grasse sind von der Jugend an nach modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen trainierte Athleten. Owens dagegen musste seinen Wettkampfkalender teilweise an die Gesetze der Rassentrennung anpassen, verdiente sich Geld als Page dazu und war 35 Jahre lang Kettenraucher.

Ein Vergleich über die Zeiten ist nicht möglich, aber die Dokumentation gibt sich eine wirklich rührende Mühe, dem so nahe wie möglich zu kommen. Einen kanadischen Ruder-Weltrekordler setzen sie in ein extra restauriertes Holzboot aus den 1960er-Jahren, der deutschen Speerwerferin Christina Obergföll drücken sie einen alten Speer mit verändertem Schwerpunkt in die Hand.

Jede Generation hat ihre Sporthelden, und über die Frage, welche Helden besser sind, kann man auch deshalb so wunderbar diskutieren, weil man die Frage eben nicht beantworten kann. Übrigens machen sich darüber nicht nur Fans Gedanken. Erst vor ein paar Wochen traf die Saarbrücker Zeitung Armin Hary zum Interview. Er sagte: "Ich wäre ja gerne mal in Topform in Spikes auf einer modernen Kunststoffbahn gesprintet. Die Zeit wüsste ich gerne."

Der wahre Champion, Arte, 21.40 Uhr.

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