ARD: "Jagdgesellschaft":Unter deutschen Dächern

Jagdgesellschaft

Auf wen wartet Lucy (Carlotta von Falkenhayn)? Karin Wegemann (Nadja Uhl, l.) vom LKA ermittelt in einem Fall von Kinderhandel.

(Foto: Wiedemann & Berg Television GmbH)

In "Jagdgesellschaft" geht es um Kinderprostitution in Deutschland. Viele wird der Film verstören - ist es doch eine Illusion zu glauben, so etwas komme hierzulande nicht vor.

TV-Kritik von Katharina Riehl

Vor ziemlich genau drei Jahren, am 16. Januar 2013, musste das Erste Deutsche Fernsehen das Leben ein bisschen schöner schneiden, als es vermutlich ist. Am Ende des Spielfilms Operation Zucker war das rumänische Mädchen Fee gerade erst aus den Händen eines Kinderhändlerrings befreit worden, als es in der vorletzten Szene des Films der Polizeibeamtin wieder entrissen wurde. Die Freiwillige Selbstkontrolle FSK, die den Film wegen der DVD-Auswertung prüfte, stellte damals fest: Das ist zu viel für Zwölfjährige, also zu viel für 20.15 Uhr. Das Ende ohne jede Hoffnung wurde weggeschnitten, die gekürzte Version gezeigt. Der vollständige Film lief dann erst nach Mitternacht.

In der sehr breiten Masse sehr durchschnittlicher deutscher Fernsehfilme gibt es selten einen, der in Erinnerung bleibt. Manchmal, wie beim Polizeiruf vom vergangenen Sonntag, weil erzählerisch und schauspielerisch Außergewöhnliches zu sehen ist; und manchmal, weil eine beeindruckende Geschichte erzählt wird. Operation Zucker war nicht nur besonders, weil er vom Jugendschutz geschnitten wurde. Auch in der kurzen Version war die Geschichte über rumänische Kinder, die in Deutschland an Freier verkauft werden, ein fast unerträglich deprimierender Film.

An diesem Mittwoch zeigt die ARD nun einen zweiten Teil von Operation Zucker, er trägt den Untertitel Jagdgesellschaft und erzählt von deutschen Kindern, die in sehr adretten deutschen Einfamilienhäusern leben, von dort aus in ähnliche Häuser gebracht werden, wo sie als Beilage zu Schampus, Koks und Kaviar serviert werden. Die beiden Mädchen Lucy und Vanessa werden aus scheinbar bürgerlichen Verhältnissen fremden Männern als Prostituierte vermietet: Mami (Jördis Triebel) schminkt sie, Vati (Sebastian Hülk) fährt sie im Kofferraum des SUV zum Termin.

Männer aus der guten Gesellschaft

Zusammengehalten werden die beiden Filme von der LKA-Beamtin Karin Wegemann, gespielt von Nadja Uhl, die in Teil eins mehrere Kinderschänder verhaften ließ, am Ende aber doch an einem System scheiterte, in dem sehr mächtige Menschen sich gegenseitig bei sehr gruseligen Dingen decken. Auch in Jagdgesellschaft sind es wieder Männer aus der guten Gesellschaft (in der man im Zweifel schon den entscheidenden Staatsanwalt oder Richter kennt), die sich kleine Mädchen liefern lassen, um an ihnen ihre Machtfantasien auszuleben. Und wie bei Operation Zucker ist die Botschaft der Macher: Diese Dinge gibt es wirklich. Sie passieren jeden Tag. So jedenfalls schreibt es ARD-Programmdirektor Volker Herres im Presseheft.

Wer diesen Film sieht, hat danach unglaublich viele Fragen, weshalb es sicher gut ist, dass die ARD im Anschluss Sandra Maischberger in ihrer Talkshow über das Thema diskutieren lässt. Eine Psychologin vom Verein "Innocence in Danger" ist eingeladen, ein ehemaliger Kriminalhauptkommissar, ein ehemaliger Odenwald-Schüler, eine Gerichtsreporterin und ein Beauftragter der Bundesregierung.

"Natürlich kann man sich das nicht vorstellen"

Wer schon früher ein paar Antworten möchte, sollte sich am besten mit Ina Jung und Friedrich Ani unterhalten. Die beiden haben das Drehbuch zu Jagdgesellschaft (Regie: Sherry Hormann) geschrieben, was insofern nahelag, als beide sich schon seit einer Weile mit den Themen Kinderhandel und Kinderprostitution beschäftigen. Ina Jung recherchierte viele Jahre als Journalistin im Fall der verschwundenen Peggy Knobloch und gemeinsam mit Friedrich Ani schrieb sie dann das Drehbuch zu Dominik Grafs tollem Film Das unsichtbare Mädchen. Ihre Geschichte beruhte auf dem Fall Peggy, ließ das verschwundene Kind (anders als in der Realität) aber am Ende in einem Bordell wieder auftauchen.

Fragt man Ina Jung also, wie sie für Jagdgesellschaft recherchiert hat, erzählt sie von Peggy, vom Kinderprostitutionsskandal "Sachsensumpf", zu dem sie sehr lange den Untersuchungsausschuss verfolgte. In dieser Zeit, sagt sie, habe sie Menschen kennengelernt, die sich ihr anvertraut haben. "Über diese Kontakte konnte ich noch viel weiter einsteigen in die Szene, die jetzt der Jagdgesellschaft zugrunde liegt. So entwickelt sich ein Netzwerk, es entsteht Vertrauen, und am Ende habe ich den Zugang zu Opferkindern bekommen."

Man tritt Ina Jung wohl nicht zu nahe, wenn man sagt, dass sie auch eine von ihren Recherchen Getriebene ist, aber wahrscheinlich bleibt man ohne eine gewisse Getriebenheit nicht dran an solchen Themen. Sie zitiert Zahlen des BKA, denen zufolge "im vergangenen Jahr jede Woche zwei Kinder in Deutschland Opfer eines Tötungsdeliktes" wurden, denen zufolge täglich "fast 50 Kinder misshandelt oder sexuell missbraucht" wurden. Die Dunkelziffer sei hoch. Friedrich Ani sagt: "Natürlich kann man sich das alles nicht vorstellen. Aber man kann sich ja auch nicht vorstellen, dass Menschen ihre Kinder umbringen und verscharren."

Dass es diese beiden Filme - Operation Zucker und Jagdgesellschaft - gibt, hat sehr viel mit einer anderen Getriebenen zu tun, mit der Produzentin Gabriela Sperl. Sie war es, die vor ein paar Jahren anfing, zum Thema Kinderhandel zu recherchieren, nachdem sie gehört hatte, dass zwei Stunden nach dem Tsunami in Thailand bei Kinderhändlern Mails mit konkreten "Bestellungen" eingegangen seien; weil verlorene oder vermeintlich tote Kinder besonders begehrte "heiße Ware" seien.

Sie recherchierte die Geschichten, auf denen Operation Zucker basiert, und (wer sie kennt, kann sich das gut vorstellen) ging den Senderverantwortlichen so lange auf den Keks, bis ihr nicht auf den ersten Blick massentaugliches TV-Projekt mit dem ungewöhnlich hoffnungslosen Ende ein preisgekrönter Fernsehfilm wurde. Auf der Pressekonferenz zu Operation Zucker sprach der damalige BKA-Chef Jörg Ziercke.

Jagdgesellschaft, der zweite Teil, wird übrigens ungeschnitten gezeigt. Auf eine DVD-Auswertung hat man diesmal zunächst verzichtet - und musste die FSK nicht fragen.

Operation Zucker - Jagdgesellschaft, ARD, 20.15 Uhr.

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