ARD-Film "Der verlorene Bruder":So laut kann Sprachlosigkeit sein

ARD-Film "Der verlorene Bruder"

Im Wirtschaftswunder hat es Ludwig Blaschke (Charly Hübner, links, mit Noah Kraus) zu Wohlstand gebracht. Doch der Verlust seines Sohnes belastet die Familie.

(Foto: WDR/Martin Menke)

"Der verlorene Bruder" erzählt von der Suche nach einem im Krieg Verschollenen. Die unaufgeregte Erzählweise kippt mitunter ins Fade.

TV-Kritik von David Denk

Die Hauptrolle spielt einer, der gar nicht da ist. Der verlorene Bruder, der dem Film von Regie-Routinier Matti Geschonneck seinen Titel gibt, bestimmt das Denken und Handeln der Figuren. Auf der Flucht aus den Ostgebieten mussten Ludwig und Elisabeth Blaschke ihren Erstgeborenen Arnold zurücklassen und leben mit dieser Leerstelle wie mit einer chronischen Erkrankung. Der Krieg ist lange vorbei, das Wirtschaftswunder hat den Blaschkes erst einen Ford Taunus, dann einen Opel Olympia und schließlich einen Opel Kapitän beschert, aber der materielle Wohlstand kann nicht über die seelische Wunde hinwegtäuschen.

Die Ehe der Blaschkes leidet unter einem doppelten Trauma: "Der Russe hat deinem Vater das Gewehr an die Brust gedrückt", erklärt Elisabeth ihrem anderen Sohn Max, "und ich musste mitkommen." Was dann passiert ist, wovor der Vater, ein Mann wie ein Bär, sie nicht beschützen konnte, bleibt unausgesprochen wie so vieles hier. Es ist ein leiser Film darüber, wie laut Sprachlosigkeit sein kann.

"Wir müssen an die Zukunft denken", sagt der Vater, ein Metzger auf dem Sprung zum Fleischgroßhändler. "Wir müssen unser Kind zurückholen", erwidert die Mutter, als könne dies auch die Begegnung mit dem Russen ungeschehen machen.

Der medizinische Fortschritt als unbarmherziger Fortschritt der Gewissheit

Als sie erfährt, dass am Tag von Arnolds Verschwinden ein Findelkind aus dem Flüchtlingstreck abgegeben wurde, lässt sie nicht locker, erzwingt Untersuchung um Untersuchung, bei denen die Ärzte mangels DNA-Abgleich noch mit der "relativen Kiefernknochenbreite", Fußabdrücken und dergleichen im Trüben fischen müssen - und so immer wieder die Hoffnung der Mutter nähren. Der medizinische Fortschritt erscheint so als unbarmherziger Fortschritt der Gewissheit.

Nun heißt der Film nach Hans-Ulrich Treichels autobiografisch gefärbtem Roman Der Verlorene aber nicht Der verlorene Sohn, denn erzählt wird die Geschichte, aus der Ruth Toma ein tragikomisches Drehbuch entwickelt hat, aus der Perspektive des 13-Jährigen Max, der auch als Erzähler fungiert. "Irgendwie war ich auf keinem Bild ganz drauf, aber das ist keinem aufgefallen", sagt er beim Blick ins Familienalbum. Auf diesen Bruder kann Max gut verzichten: "Es dreht sich ja eh schon alles um ihn. Wenn er erst da ist . . ."

Seine Dynamik gewinnt Der verlorene Bruder daraus, dass Max beginnt, die Suche seiner Mutter, an der sich der Vater seiner Frau zuliebe widerwillig beteiligt, zu sabotieren; am Ende wolle Arnold noch sein Bett. Das ist egoistisch, aber aus seiner Sicht alternativlos. Für Max steht viel auf dem Spiel: Er kämpft um seinen Platz am Rande der elterlichen Wahrnehmung.

Dick aufgetragen ist hier nichts

Regisseur Geschonneck verlässt sich sehr auf Max-Darsteller Noah Kraus, der neben seinen Film-Eltern Charly Hübner und Katharina Lorenz mit empathischem, gewitzten, nuancenreichen Spiel bestehen kann. Auch dank des Zutuns der Schauspieler sind die Figuren fein gezeichnet. Dick aufgetragen ist hier nichts. Das Unaufgeregte ist Qualität und Makel zugleich, denn die Lakonie kippt mitunter ins Fade. Die Handlung gleicht einem langen, ruhigen Fluss, den selbst ein weiterer Schicksalsschlag nicht aus seinem Bett zu tragen vermag.

Das Ende jedenfalls kommt so wenig überraschend wie das Meer hinter der Flussmündung. Verdient hätte der Film die volle Aufmerksamkeit des Zuschauers, lässt allerdings das Bemühen darum zwischenzeitlich schleifen.

Der verlorene Bruder, ARD, 20.15 Uhr.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: