"Anne Will" zur Regierungsfindung: "Ob der Lindner weiß, was er da ausgelöst hat?"

´Anne Will" vom 27.11.2017

"Regierungsbildung extra-schwer - wie geht es weiter in Berlin?" wollte Anne Will von ihren Gästen wissen.

(Foto: dpa)

Laschet betrauert pflichtschuldig das Scheitern von Jamaika, Göring-Eckardt und Weil kabbeln sich. Viel Hoffnung auf eine neue Regierung macht die Runde bei Anne Will nicht.

TV-Kritik von Lars Langenau

Sonntagabend vor einer Woche sah die Welt in Berlin noch völlig anders aus: Eine Jamaika-Koalition würde Deutschland regieren, da war man sich so sicher wie damals beim Nein zum Brexit oder der Wahl von Hillary Clinton zur US-Präsidentin. Nun ja, die Briten bereiten heute ihren EU-Austritt vor, im Weißen Haus sitzt Donald Trump - und auch die Sicherheit des vergangenen Sonntags erwies sich als trügerisch. Nur ein paar Stunden später waren die Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, Grünen und FDP krachend gescheitert.

Nach zwei Tagen Entsetzen über Christian Lindners bis heute kaum erklärte Totalverweigerung kam es zu einer in der 68-jährigen Geschichte der Bundesrepublik einzigartigen Kakophonie - und dann zu einer Dynamik in den Parteien, die bis dahin kaum jemand für möglich gehalten hatte: Es musste dazu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier intervenieren und die unerzogenen Kinder nacheinander an den Tisch holen. Plötzlich lobte Kanzlerin Angela Merkel die große Koalition und SPD-Chef Martin Schulz rückte auf massiven Druck seiner Fraktion von seiner starren Entweder-oder-Einstellung ab (Opposition oder Neuwahlen).

"Wir haben eine spannende Woche hinter uns", kommentierte Stephan Weil die vergangene Woche trocken am Sonntagabend im Studio von Anne Will. "Eine Situation, die wir noch nie hatten", fügte Niedersachsens Ministerpräsident nordisch unterkühlt hinzu. Und dann, doch ein bisschen dramatisch für den SPD-Mann: "Ich weiß gar nicht, ob der Lindner weiß, was er da ausgelöst hat?"

"Große Koalition, Minderheitsregierung oder gar Neuwahlen - wie geht es weiter bei der Regierungsbildung in Berlin?" zu dieser Frage diskutierten in der ARD Weil, sein NRW-Amtskollege Armin Laschet von der CDU, Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und Ulrich Batis, emeritierter Professor für Staatsrecht an der Humboldt-Uni in Berlin. Süffisant kommentierte Batis zunächst, dass man eine gemeinsame Regierung von Union und SPD mit ihren 53 Prozent ja gar nicht mehr große Koalition nennen könne. Antworten, wie es denn anders weitergehen könnte, blieb er den restlichen Abend allerdings schuldig. Immerhin saßen hier bei Will drei staatstragende Parteien in einer Runde, aus deren Kreis sich FDP-Chef Lindner vor einer Woche verabschiedet hatte.

Göring-Eckardt: Jamaika ist auch an der FDP-Position zu Europa gescheitert

Laschet bedauerte zunächst ein wenig pflichtschuldig das Scheitern von Jamaika und sagte, dass sich "jeder da wiedergefunden hätte". Jamaika sei auch an den Vorstellungen der FDP über Europa gescheitert, widersprach ihm Göring-Eckardt und der Zuschauer wurde hellhörig, weil bislang so wenig über die vielen Knackpunkte bekannt ist. Das Thema Europa sei bei Union und SPD einfach besser aufgehoben, sagte die Grüne ebenso mysteriös wie überraschend. "Und dafür haben Sie einen Monat gebraucht, um das zu erkennen?", fragte Weil. "Verschüttete Milch", antwortete Göring-Eckhardt.

Tatsächlich wäre dies ein Punkt gewesen, über den es sich dringend mehr zu erfahren gelohnt hätte. Doch Moderatorin Anne Will wirkte dermaßen abgekämpft und müde, als hätte sie bei den Jamaika-Sondierungen selbst mit am Tisch gesessen. An diesem äußerst interessanten Punkt hakte sie leider nicht nach.

Verschüttete Milch eben. Aber auch zwischen den staatstragenden Parteien CDU, SPD und Grünen knirschte es und vergnügungssteuerpflichtig wird auch die Zusammenarbeit dieser drei Parteien, in welcher auch immer gearteten Form, ganz sicher nicht. Bereits zu Anfang der Diskussion konstatierte Weil, die SPD sei "nicht die Reservebank der Kanzlerin". Er fürchte, dass es in diesem Jahr keine neue Regierung mehr geben werde. Dieser Einschätzung stimmten am Ende des Abends in der ARD alle zu.

Wie konnte die Regierungsbildung zum Problem der SPD werden?

Zwar signalisierte die SPD bei der Suche nach einer stabilen Regierungskoalition nun doch Gesprächsbereitschaft, lässt sich aber alle Optionen offen und wird versuchen, die Termini "Sondierung" und "Verhandlungen" zu vermeiden, solange es geht. "Alles ist auf null", sagte Laschet: Nichts von dem, was bei Jamaika verhandelt worden sei, habe Einfluss auf die Gespräche mit der SPD. Alle gefundenen Kompromisse seien wieder offen und "die Wahlprogramme von CDU/CSU und SPD liegen auf dem Tisch".

Der NRW-Ministerpräsident schloss in Berlin eine Minderheitsregierung nach einem möglichen Scheitern der Gespräche mit der SPD nicht aus und würde sie offensichtlich Neuwahlen vorziehen. Sein niedersächsischer Amtskollege Weil hingegen sagte, er halte eine SPD-Tolerierung einer schwarz-grünen Minderheitsregierung für ausgeschlossen. Was kann das dann werden? Eine Regierung nur aus CDU und CSU, die manchmal wohlwollend von der SPD gestützt wird und sich ansonsten wechselnde Mehrheiten organisieren muss? Könnte so etwas zu Sternstunden des Parlaments führen und wieder Begeisterung für Politik wecken? Oder doch eine Neuauflage der GroKo?

Wir dürfen uns auf weitere Wendungen, Drehungen und Verbiegungen freuen

"Wir befinden uns am Anfang eines Prozesses", sagte ein an diesem Sonntagabend sehr engagierter Weil, man habe einen "munteren" Diskussionsprozess in der Partei. Gerade seine 20,5-Prozent-Partei steht vor einer Zerreißprobe: Die SPD ist konfrontiert mit der patriotischen Verantwortung, es nicht zu Neuwahlen kommen zu lassen, dem festen Oppositionswillen weiter Teile der Partei und der Verachtung des Wahlvolks für Umfaller - ein Image, das die FDP noch bis vor einer Woche gepachtet hatte.

Angesichts dieser Runde bei Anne Will und nach dieser Woche mit all ihren Wendungen stellte sich dem Beobachter unweigerlich die Frage, wie die Regierungsbildung plötzlich zum Problem der SPD werden konnte. Und damit nicht genug: Sie kann fast nur als Buhmann aus allen Varianten herausgehen. Es schwante einem, das die GroKo tatsächlich zum Todesstoß für die Sozialdemokatie werden könnte, wie es die Jusos Schulz am Freitag auf ihrem Bundeskongress prophezeit hatten.

Die SPD ist in eine Zwickmühle geraten, aus der ein Ausweg kaum möglich scheint. Aber, das hat die vergangene Woche gelehrt: Wir dürfen uns noch auf einige Wendungen, Drehungen und Verbiegungen freuen. Es bleibt also in den letzten Wochen des Jahres auf Berlins politischer Bühne äußerst spannend - gerade weil niemand mehr die Milch zurück in die Kanne bekommt.

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