ARD-Talk "Anne Will":"Ich sehe keinen Minister, der aus Ostdeutschland kommt"

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Gelingt der Groko-Neuanfang? Anne Wills Gäste diskutieren: Andreas Rödder, Frank Richter, Volker Bouffier, Olaf Scholz, Tina Hassel (von links nach rechts). (Foto: dpa)

Vor dem heutigen CDU-Sonderparteitag diskutieren Anne Wills Gäste über das Besetzungsgeschick der Kanzlerin. SPD-Vertreter Scholz meldet sich aus der Warteschleife namens "Mitgliederentscheid".

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Die Sehnsucht nach Aufbruch ist groß in der CDU. Geht es nach dem hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, macht sich die Partei an diesem Montag auf den Weg, wenn sie sich in Berlin zu einem Sonderparteitag trifft. Vieles wird neu sein. Die Delegierten werden über die neue Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer abstimmen, über die neue große Koalition, die neuen CDU-Minister in einem möglichen Kabinett und ein neues Grundsatzprogramm.

Einen "Parteitag des Aufbruchs" erhofft sich daher Bouffier am Sonntagabend im ARD-Studio. Für ihn stellt sich die Frage eigentlich gar nicht, mit der Anne Will ihre Sendung überschrieben hat: "Angeschlagen auf der Zielgeraden - gelingt Schwarz-Rot der Neuanfang?" Natürlich, findet Bouffier.

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Seit Union und SPD bei der Bundestagswahl zusammen fast 14 Prozentpunkte eingebüßt haben, knirscht es in beiden Parteien. Die Basis begehrt auf, man ringt um den richtigen Kurs, der Druck auf die Parteispitze wächst. Am Sonntagnachmittag hat sich CDU-Chefin und Kanzlerin Angela Merkel fürs Erste Luft verschafft, als sie ihre Ministerliste in den Spitzengremien präsentierte. Gleich vier Neue sollen am künftigen Kabinettstisch Platz nehmen. Am überraschendsten ist die Berufung der parlamentarischen Geschäftsführerin Anja Karliczek zur Bildungsministerin. Am interessantesten die von Finanzstaatssekretär Jens Spahn, dem profilierten Merkel-Kritiker, zum Gesundheitsminister.

Wie steht die CDU zum desolaten Zustand der Bundeswehr?

Tina Hassel, Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, sieht in der Entscheidung einen Autoritätsverlust der Kanzlerin: "Sie weicht ab vom Merkel'schen Mechanismus, Konkurrenten und Widersacher eher auf Distanz zu halten." Merkel habe auch dem innerparteilichen Druck nachgegeben. Vermutlich wird der Parteitag am Montag harmonisch verlaufen. Doch längst scheint in der CDU nicht alles gekittet, zumindest, wenn man die Debatte am Sonntagabend als Maßstab nimmt.

Will hat gleich drei Diskutanten mit CDU-Hintergrund eingeladen. Neben Bouffier sitzen in der Runde der Historiker Andreas Rödder und Frank Richter, der bis vor einem Jahr die Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung leitete. Rödder gehört zu jenen CDU-Mitgliedern, die sich seit Längerem schwertun mit ihrer Partei. Er glaubt zwar, dass die personelle Neuausrichtung eine Chance sein kann. Vor allem die Berufung von Kramp-Karrenbauer hält er für einen "sehr klugen Schritt". Andererseits habe die Partei grundlegende Probleme: "Die CDU braucht in erster Linie eine inhaltliche Profilierung", sagt er.

Es gebe drängende Fragen: Wie steht die CDU zum Rechtsstaat, dem manche Mitglieder den Schutz der Grenzen nicht zutrauen würden? Wie zum desolaten Zustand der Bundeswehr? Wie lautet eine konstruktive deutsche Antwort auf Emmanuel Macrons Ideen von Europa? Die CDU brauche wieder eine "offene Debatte".

Frank Richter ist im vergangenen Jahr aus der CDU ausgetreten, mangelnde Diskursfähigkeit war ein Grund. Gerade stört ihn aber etwas anderes: "Ich sehe keinen Minister, der aus Ostdeutschland kommt", sagt er. In Sachsen habe die AfD die meisten Zweitstimmen erhalten. Es gebe dort Regionen, in denen rechtspopulistische, antidemokratische Kräfte erstarken würden. "Ein starkes politisches Signal" sei dringend notwendig, doch das fehle sowohl in Merkels Ministerliste als auch im Koalitionsvertrag.

Als dann Moderatorin Will den Hinweis anbringt, dass auch keiner der designierten CDU-Minister einen Migrationshintergrund habe, grätscht Bouffier rein: "Man kann nicht alles unter einen Hut bringen. Man muss nicht aus dem Osten kommen, um sich um den Osten zu kümmern." Den ausgetretenen Richter überzeugt das eher nicht. Der Aufbruch der CDU, sofern er denn kommt, muss ohne ihn stattfinden.

Die SPD steckt in der Warteschleife

Zumindest verzögern wird er sich bei der SPD. Die Partei steckt gerade in einer Warteschleife. Bis Freitag dürfen die Mitglieder noch über den Eintritt in eine erneute große Koalition abstimmen. Die Parteispitze hat zuletzt vehement um Zustimmung für den Koalitionsvertrag geworben. Studiogast Olaf Scholz, kommissarischer SPD-Vorsitzender, glaubt an "ein gutes Mitgliedervotum".

Doch noch kennt Scholz das Ergebnis eben nicht, seine Ideen bleiben daher eher vage: SPD und CDU müssten den "politischen Hauptwettbewerb" austragen. Die Volksparteien müssten den Menschen in unsicheren Zeiten sichere Lebensperspektiven anbieten. Und: Ein Zickzackkurs, wie ihn die SPD in den vergangenen Monaten hingelegt habe, "geht nicht". Nach Aufbruch oder Sehnsucht klingt lediglich Scholz' Ziel für die nächste Bundestagswahl: Die SPD soll stärkste Kraft werden.

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