Anne Will zur Causa Wulff:Löchrige Wahrheit

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Ex-Bundespräsident Christian Wulff kurz vor der Vorstellung seines Buches "Ganz oben, ganz unten" am 10. Juni 2014.

(Foto: AFP)

Christian Wulff will die ganz große Debatte. Anne Will tut ihm den Gefallen. Ist der Ex-Bundespräsident ein Opfer? Ein spannendes Gespräch, auch weil sich ein Freund leidenschaftlich für Wulff engagiert. Doch warum sind einige Journalisten über das Ziel hinausgeschossen?

Eine TV-Kritik von Sebastian Gierke

Wie der Freund sich für Christian Wulff einsetzt, ist fast rührend zu sehen. Wie er mit den Armen fuchtelt, mit dem Zeigefinger jeden Satz unterstreicht, seinen Körper aus dem Sessel nach vorne beugt, in Angriffsposition. In seiner Erregung entfährt ihm der Talkshow-Klassiker: "Lassen Sie mich ausreden." Obwohl niemand aus der Runde ihn wirklich unterbricht.

Dirk Roßmann ist aufgebracht. Und leidenschaftlich. Es ist ein Stellvertreterkampf, den er hier führt. Und Roßmann, der erfolgreiche Drogerieunternehmer, hat vor, ihn zu gewinnen. Er will die Wahrheit und nichts als die Wahrheit verkünden. Die Wahrheit im Fall Christian Wulff. Welch Aufgabe!

Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff fühlt sich ungerecht behandelt. Deshalb hat er ein Buch geschrieben, in dem er seine Sicht der Dinge darstellt. Das Buch, das nicht nur in der Hauptstadt Berlin gerade für Aufregung sorgt, soll allerdings "keine Abrechnung" sein, wie Wulff bei der Vorstellung von "Ganz oben, ganz unten" am Dienstag erklärte. "Seine eigene Sicht der Dinge hinzufügen", das wolle er. Jeder könne sich dann eine Meinung bilden. Er habe ein "politisches Buch" geschrieben, "ein Angebot, ganz offen zu diskutieren, was falsch gelaufen ist".

Erlebte Wahrheit und Wulffs Wahrheit

Im Februar 2012 ist Wulff, nach nur 19 Monaten im Amt, als Bundespräsident zurückgetreten. Die Staatsanwaltschaft Hannover hatte die Aufhebung seiner Immunität beantragt. Aus ihrer Sicht bestand ein Anfangsverdacht: Vorteilnahme im Amt, zu einer Zeit, als Wulff niedersächsischer Ministerpräsident war. Im Februar dieses Jahres wurde Wulff dann vom Landgericht Hannover in allen Punkten freigesprochen.

Christian Wulff wollte deshalb eine Debatte. Und bei Anne Will bekommt er sie. Eine Debatte, in deren Zentrum die Diskrepanz zwischen erlebter Wahrheit steht, seiner Wahrheit und deren Repräsentationen, vor allem den medialen. Denn die eine Wahrheit gibt es in diesem komplexen Fall nicht. Selbst Wulff spricht nur von "meiner Wahrheit".

Bei Anne Will diskutieren Armin Laschet, stellvertretender Parteivorsitzender der CDU und Ralf Stegner, der die gleiche Position bei der SPD innehat. Außerdem die ARD-Journalistin Sarah Tacke, der Professor für Medienwissenschaften Bernhard Pörksen - und Dirk Roßmann, Drogerieunternehmer. Das Thema: "Christian Wulff klagt an. Ist er ein Opfer von Medien und Justiz?" Es wird ein spannendes Gespräch.

Für Roßmann sind Teile der Presse schuld

In seinem Buch inszeniert sich Wulff als Opfer. Aber er führt nicht nur eine persönliche Auseinandersetzung. Wulff glaubt, dass es Fehlentwicklungen im Verhältnis von Medien und Politik gibt. "Die Art und Weise, wie sich nicht nur in meinem Fall Medien und Justiz die Bälle zugespielt haben", bedrohe das Prinzip der Gewaltenteilung an der Schnittstelle zwischen Justiz und Presse, sagte der Ex-Bundespräsident bei der Buchvorstellung. Das sei "eine ernstzunehmende Gefahr für unsere Demokratie".

Denn unabhängig von seiner Person sei es ein "rechtspolitisch hoch problematischer Vorgang, dass eine einzelne Staatsanwaltschaft mit leeren Händen die Ablösung des Staatsoberhauptes betreiben und es zum Rücktritt zwingen kann", klagte Wulff. Darüber müsse "geredet, vielleicht auch gestritten werden". Dies sei notwendig, wolle man das Vertrauen der Menschen in staatliche Institutionen zurückgewinnen.

Dirk Roßmann ist zum Streiten gekommen. Der Unternehmer, den seit zwei Jahren eine "tiefe Freundschaft" mit Wulff verbinde, glaubt felsenfest, dass Teile der Presse "aktiv daran mitgewirkt" hätten, dass die Staatsanwaltschaft die Immunität Wulffs aufgehoben hat. Den Ausschlag habe "eine falsche Geschichte in der Bild-Zeitung" gegeben. "Und die Staatsanwaltschaft ist darauf reingefallen."

Er sei inzwischen tief davon überzeugt, dass nicht jeder Staatsanwaltschaft die Möglichkeit bekommen dürfe, einen Bundespräsidenten zum Rücktritt zu zwingen, sagt Roßmann. Er sieht im Buchautor Wulff, ähnlich wie Laschet ("Es liest sich wie ein Krimi. Das ist spannend."), einen großen Aufklärer, gerät ins Schwärmen: "Das wird das politische Buch dieses Jahres sein." Es sei hochinteressant. Anne Will fragt lachend: "Sind Sie an den Einnahmen beteiligt?"

Eine Packung Minzschokolade zur Bestechung

Trotz seines Hanges zur Verschwörungstheorie prangert Roßmann die Berichterstattung in dem Fall zu Recht an, zumindest Teile davon. Darüber ist man sich auch in der Runde einig - bestimmte Medien hätten in diesem Fall Grenzen überschritten. Wulffs gesamtes Privatleben wurde durchleuchtet. Irgendwann spielte eine Rolle, ob er seine Mitschüler im Jahr 1976 mit einer Packung Minzschokolade bestochen hat, weil er Schülersprecher werden wollte.

Der Fall wirft also tatsächlich die wichtige Frage auf, ob im täglichen Kleinkrieg um schnellere Meldungen, höhere Reichweite und mehr Auflage manches Mal die Perspektive abhandengekommen ist. Und falls ja, ob die Journalisten durch die resultierende Desorientierung bei der Erfüllung ihres Auftrages scheitern, die Öffentlichkeit objektiv zu informieren. Nein, sagt Sarah Tacke, die für die ARD den Prozess verfolgt hat.

Einige Journalisten seien zwar übers Ziel hinausgeschossen. Doch grundsätzlich hätten sie ihre Aufgabe als vierte Macht erfüllt. Geradezu entsetzt ist Tacke darüber, dass Wulff der Staatsanwaltschaft vorwirft, sie habe sich bei ihren Vorermittlungen von den Medien beeinflussen lassen. Dabei gebe es doch keinen Zweifel daran, dass ein Anfangsverdacht bestanden habe - und die Immunität Wulffs also aufgehoben werden musste. Wulff habe sich von Grauzone zu Grauzone bewegt. Es ist Roßmann, der sie jetzt nicht ausreden lässt.

Grausamer, grimmiger Journalismus

Der Fall Wulff ist aber tatsächlich auch ein Fall, der zeigt, wie sich minimal fehlerhafte Handlungen irgendwann zu einer Verkettung von Schuld addieren können, zu einem unentrinnbaren, einem desaströsen Geschehnisnetz, aus dem zumindest ein Bundespräsident nicht mehr herausfindet.

SPD-Mann Stegner betont, dass man dennoch keinen Staat haben wolle, in dem nur jemand vor Gericht gestellt werden kann, der dann mit 100-prozentiger Sicherheit auch verurteilt wird. "Das wäre ja furchtbar." Er bezweifle außerdem stark, "dass der Staatsanwalt sich von Medien beeindrucken lässt".

Trotzdem fallen immer wieder Begriffe wie "grausamer" und "grimmiger" Journalismus. Tacke versucht mit Fakten dagegenzuhalten, wird vom emotionalen Vortrag Roßmanns allerdings immer wieder ausgebremst. Medienwissenschaftler Pörksen wechselt dagegen die Ebene, ordnet die Diskussion in größere Zusammenhänge ein. Er spricht von der Opfertheorie Wulffs, dessen Buch "ein Dokument der Verschwörungstheorien" sei. "Ich bin sehr darüber erschrocken", sagt Pörksen. Über die selektive Sichtweise Wulffs, dass er so viele Dinge ausblende.

In Sachen Bobby-Car

Noch interessanter wird es, wenn Pörksen allgemein über die Medien spricht. Einerseits befürchtet er eine Skandalisierung der Skandalisierung und damit einen Anstieg der Medienverdrossenheit. Dabei müsse man weg von den Krawallthesen, hin zu einer präzisieren Medienkritik.

Andererseits versucht er der Struktur der Affäre auf den Grund zu gehen. Und die sei vor allem von Ungewissheit geprägt. Und eben nicht von Wahrheiten, wie sie Dirk Roßmann predigt. Es gebe in dem Fall noch viele Grauzonen, zum Beispiel, was die umstrittene Aussage Wulffs vor dem niedersächsischen Landtag angeht. Wulff hatte dort formell richtig geantwortet, allerdings nicht umfassend. Wulff selbst bezeichnet das heute als einen seiner Fehler.

Pörksen stellt deshalb fest, dass es "keine Gewissheit im Sinne einer Abschließbarkeit" gebe. Und erklärt damit, warum es auf Seiten der Medien zu Grenzüberschreitungen kam: Aufgrund der Unsicherheit seien einige Journalisten über das Ziel hinausgeschossen, deshalb hätten sie auch noch in Sachen Bobby-Car recherchiert. Dadurch sei "die Wucht des Klarmachens, des Beweisens" so groß geworden. Man könnte das auch so beschreiben: Durch die Wucht der eigenen Anstrengung vom Weg abkommen.

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