"Anne Will" zum Satire-Streit:"Guckt Erdoğan deutsches Fernsehen?"

Grimme-Preis - Jan Böhmermann

Worum geht es beim Streit um Jan Böhmermanns Erdoğan-Gedicht wirklich?

(Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Der TV-Talk von Anne Will zeigt: Es geht in der Debatte nicht um Böhmermann oder die Grenzen der Satire, sondern um die deutsche Haltung in der Flüchtlingsfrage.

TV-Kritik von Julian Dörr

Man kann auch jetzt, mit etwas mehr als einer Woche Abstand nach Ausstrahlung und Löschung, von Jan Böhmermanns Erdoğan-Gedicht halten, was man will. Freundeskreise und Kollegenrunden haben sich gespalten über die Frage, ob das nun große satirische Kunst oder großer rassistischer Mist ist. Am Erfolg der Aktion bleibt jedoch kein Zweifel. Denn mehr als eine Woche nach Ausstrahlung und Löschung diskutiert Deutschland noch immer über Böhmermanns Schmähkritik.

Was darf Satire? Wo ist die Grenze des gutes Geschmacks - oder treffender: die Grenze zur Beleidigung - erreicht? Auch in Anne Wills Talk-Runde geht es an diesem Sonntag über weite Strecken um die ermüdende Frage, ob Böhmermanns klischeegetränktes Verbal-Feuerwerk nun Satire sein darf oder eben nicht.

Das Drama erweitert sich täglich um neue Protagonisten

Aber der Reihe nach. Nachdem Böhmermann sein "Schmähkritik" betiteltes Gedicht in der Late-Night-Show Neo Magazin Royale mit der ausdrücklichen Ankündigung präsentiert hatte, das so etwas in Deutschland nicht erlaubt sei, löschte das ZDF die betreffende Sendung aus der Mediathek - mit dem Hinweis, sie entspreche nicht ihren Standards für Satire. In einem Telefonat mit dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu bezeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel das Spott-Gedicht daraufhin als "bewusst verletzend". Am Sonntag dann der bislang letzte Akt in der Causa Böhmermann: Die türkische Regierung machte in einer Verbalnote an das Auswärtige Amt deutlich, dass sie eine Strafverfolgung des TV-Moderators in Deutschland erwarte. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft, die Bundesregierung prüft, wie sie mit dem Strafverfolgungsgesuch umgehen soll.

Das kleine diplomatische Drama um Böhmermanns Gedicht erweitert sich also Tag für Tag um neue Protagonisten. Und was macht der Moderator selbst? Der schweigt, bleibt am Freitagabend der Grimme-Preis-Verleihung fern und sagt auch die Teilnahme in Anne Wills Talkrunde ab. Dort wird er jedoch vom Kollegen Serdar Somuncu würdig vertreten. "Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich hinter ihren Künstler stellt", erklärt der türkischstämmige Kabarettist gleich zu Beginn. Vor drei Wochen war er selbst Gast in Böhmermanns Neo Magazin Royale, zusammen mit dem Moderator sang er vom "Frühling für Frauke" - eine bissig überzeichnete Reaktion auf den AfD-Erfolg bei den Landtagswahlen. Und herrlich eindeutige Satire - ganz anders als die "Schmähkritik".

Weshalb die erste Hälfte des Talks dafür aufgewendet wird, zu klären, ob Böhmermann nun für seine Beleidigungen belangt werden darf oder nicht. Ein erstaunlich großer Zeitrahmen, wenn man bedenkt, wie einig sich doch beinahe alle Gäste an diesem Abend sind. CDU-Politiker Elmar Brok, die Linken-Abgeordnete Sevim Dağdelen, Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen - sie alle reden so viel von Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit, dass man fast glauben möchte, die Freiheit Deutschlands werde im Neo Magazin Royale verteidigt.

Auf der anderen Seite steht Fatih Zingal, der stellvertretende Vorsitzende der Erdoğan nahestehenden Union Europäisch-Türkischer Demokraten, der an diesem Abend vor allem zum Sparringspartner von Kabarettist Somuncu wird ("Für die Deutschen ist es auch attraktiv zu sehen, dass sich nicht einmal die Türken einig sind."). Mit der geschulten Rhetorik eines Rechtsanwalts dröselt er den Fall Böhmermann aus seiner Sicht auf: Das Gedicht sei keine Satire, sondern Schmähkritik. Und deshalb nicht geschützt von der Kunstfreiheit. Daran ändere auch der als Haftungsausschluss vorangestellte Disclaimer nichts, den Will kurz einspielen lässt. Das Gedicht selbst zeigt die ARD nicht.

Der Satiriker erklärt, worum es wirklich geht

Abgesehen von dieser Stimme herrscht Grundkonsens. Die Meinungsfreiheit gilt, gut finden muss man die Sache nicht. Und während Elmar Brok die Aussage der Kanzlerin verteidigt, kritisiert die Linken-Politikerin Dağdelen den vorauseilenden Gehorsam Merkels und des ZDF.

Es ist der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, der der bis ins Kleingedruckte ausbuchstabierten Diskussion tatsächlich noch ein paar interessante Gedanken hinzuzufügen hat. Mit seinem Erdoğan-Gedicht habe der Moderator ein Hybrid geschaffen, einen Zwitter aus Satire und Schmähkritik. Der Fall sei ein "Lehrbeispiel für globale Empörungsepidemien", die sich im Internetzeitalter blitzschnell ausbreiten und eben auch diplomatische Krisen auslösen können. Darauf seien wir noch nicht vorbereitet, so Pörksen. Man kann darin nun den Mehrwert in Böhmermanns Aktion sehen, ihren Bildungsauftrag. Auch wenn einem das eigentliche Gedicht - wie Pörksen - missfällt.

"Guckt Erdoğan deutsches Fernsehen?"

Dass die Bundesregierung die Strafverfolgung tatsächlich aufnimmt, hält der Wissenschaftler für eine "albtraumhafte Vorstellung." Aber daran glaubt auch CDU-Politiker Brok nicht. Es zeigt sich hier das grundlegende Problem der beispielhaften Empörungsepidemie. Die Böhmermann-Satire-Debatte ist eine Scheindebatte - und es dauert beinahe eine Dreiviertelstunde, bis die Diskussion bei Will zum wirklichen Kern vorgedrungen ist: Es geht hier nicht um Satire oder deren Grenzen, es geht um den EU-Deal mit der Türkei und dessen Auswirkungen auf das deutsch-türkische Verhältnis.

Es wird zur herrlichen Ironie dieses Abends, dass es der Satiriker Somuncu ist, der mit seiner Klarheit und Schärfe den Nebel um die Debatte lichtet: "Wir reden hier über Albernheiten. Hat Angela Merkel nichts Besseres zu tun als das Neo Magazin Royale zu schauen? Guckt Erdoğan deutsches Fernsehen?" Und weiter: "Was wir heute besprechen, ist die Frage: Ist die Kanzlerin erpressbar geworden, weil sie die Türkei plötzlich braucht?"

Für Somuncu ist die Sache klar. Merkel sei gekippt, sie arbeite denen zu, die auf die Straßen gehen und "Wir sind das Volk" rufen. Und in der Flüchtlingskrise brauche sie eben die Unterstützung von Erdoğan. Es geht also nicht um Böhmermanns Satire, sondern um die Frage, ob man Menschen in ein Land abschieben sollte, das so offensichtliche demokratische Defizite hat. Denn auch wenn Fatih Zingal für das halb volle Glas der AKP-Reformen wirbt und dafür, "nicht immer das Haar in der Suppe" zu suchen, die Türkei belegt auf der aktuellen Weltrangliste der Pressefreiheit den 149. Platz.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: