Anne Will:Wer regelt schon die eigene Nachfolge, während er ums Überleben kämpft

Anne Will

In der Sendung "Anne Will" zu Rechtspopulismus wurden die entscheidenden Fragen nicht gestellt (Bild von 2015).

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Volksparteien kaputt, ein Rechtspopulist fast Präsident. Anne Will fragt: Drohen österreichische Verhältnisse auch in Deutschland? Für SPD und CDU eine Talkshow zum Seufzen.

TV-Kritik von Hannah Beitzer

Von Österreich nach Deutschland ist es nicht weit, geografisch wie emotional. Klar also, dass das zum Sonntagabend noch nicht ganz fertige Wahlergebnis im Nachbarland auch Berlin wachhält. Volksparteien kaputt, ein Rechtspopulist fast Bundespräsident - puh. Droht uns das alles auch in Deutschland?

Gott sei Dank liegt zwischen Berlin und Österreich noch der Freistaat Bayern. Und da ist alles noch in Ordnung. Das findet jedenfalls der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich in der Talkrunde von Anne Will, die sich angesichts der Österreich-Wahlen mit der Krise der Volksparteien beschäftigt. "Die CSU hat ja in Bayern stabile Mehrheiten", ruft der ehemalige Bundesinnenminister triumphierend. Die kriege man halt nur nicht geschenkt, die müsse man sich hart erarbeiten. "Ich glaube, die CDU und die SPD können von der Bürgerorientierung der CSU noch einiges lernen."

Im Video spielt Seehofer mit Playmobil

An dieser Stelle meint der Zuschauer Malu Dreyer, kürzlich wiedergewählte SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, und CDU-Vize Armin Laschet im Chor seufzen zu hören. Na, immerhin ist der Seehofer nicht da. Per Video vorgeführt wird der bayerische Ministerpräsident aber - wie er mit Eisenbahn und einer Playmobil-Figur von Kanzlerin Angela Merkel spielt. Und so erklärt, warum die Kanzlerin absolut falsch und er, Horst Seehofer, dermaßen richtig liege in der Flüchtlings-Frage.

Das ist dann auch schon eine der Hauptthesen der Talkrunde: Schuld am Erstarken der AfD in Deutschland ist die einstmals garantiert fremdenfeindl... ähh -skeptische CDU, die die Ängste der Bürger angesichts der Flüchtlingskrise nicht ernst genommen habe.

"Welt"-Journalist Schümer teilt in alle Richtungen aus

Das findet zum Beispiel Welt-Journalist Dirk Schümer. Er erklärt Laschet, dass einer konservativen Partei, die die Wehrpflicht aufgebe, sich von traditionellen Lebensmodellen abwende und dann auf einmal auch noch lauter Flüchtlinge ins Land lasse, natürlich die Wähler davonlaufen: denn in der Mitte sei es zwar gemütlich, aber da seien halt alle. "Viele CDU-Wähler fühlen sich jetzt eben von der AfD repräsentiert. Da können sie nicht drum herumreden."

Aber auch die SPD kritisiert Schümer. Die einstige Arbeiterpartei beobachte schließlich auch ein "Abschmelzen ihrer Kerngruppe". Das sei zum einen, so geht es noch versöhnlich los, ein Zeichen des Erfolges: Die Kinder einstiger Arbeiter seien heute vielfach gar keine Arbeiter mehr, sondern Studenten. Und somit mit anderen Themen beschäftigt als ihre Eltern. Daher bestehe die SPD aus "Rentnern, öffentlichem Dienst und Gewerkschaftsfunktionären".

Zum anderen habe sie aber selbst zur noch vorhandenen Kernklientel den Kontakt verloren. "Wenn da zum Beispiel eine Putzfrau vorgeführt wird wie im Zoo: Oh! Da ist eine FRAU! Die ARBEITET! Und die kann davon GAR NICHT LEBEN!" Schümer grinst spöttisch. Autsch, das tut weh - sagt jedenfalls der Gesichtsausdruck von Malu Dreyer. Und doch hat Schümer, mit Blick nach Österreich, nicht ganz unrecht: Der von den Grünen unterstützte Kandidat Alexander Van der Bellen habe vor allem in reicheren Vierteln gewonnen, der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer in den ärmeren.

Allzu sanft geht der Journalist mit den Menschen in den diesen Vierteln allerdings auch nicht um. Sie lebten "gut gepolstert" vom Sozialstaat und fänden es weniger schön, dieses Privileg mit anderen teilen zu müssen. Mit seinem Auftritt hat Schümer alle Lacher und viele Sympathien auf seiner Seite. Allein: In alle Richtungen austeilen, ist halt auch einfacher, wenn man nicht in der Verantwortung steht, verlorene Wähler zurückzugewinnen.

Nur verhindern wollen, dass aus dem Fast-AfD-Wähler ein tatsächlicher AfD-Wähler wird - das ist zu kurz gedacht

Was mit all diesen Befunden anzufangen ist, damit kommt die Runde nicht wirklich weiter. Einige interessante Punkte bringt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte an. Doch er weiß sie leider nicht so unterhaltsam an den Zuschauer zu bringen wie Dirk Schümer und geht daher ein wenig unter. So sagt er zum Beispiel: "Sie gehen davon aus, dass Wähler widerspruchslos wählen." Wobei er mit "widerspruchslos" stringent und rational nachvollziehbar meint. Ist natürlich nicht so.

Das wiederum führt dazu, dass es keine todsicheren ideologischen Rezepte gibt, die Wählergunst zu behalten. Und auch keine Garantie, dass ein politisches System immer so funktioniert, wie man es gewohnt ist. Die Politik müsse eben experimentieren, mit neuen Konstellationen, mit Minderheitenregierungen - dann werde sie auch Achtung vor dem Wähler gewinnen, findet Korte.

Und was sagen die Vertreter der Noch-Volksparteien? "Man muss ernst nehmen, was die Leute bewegt. Aber nicht die Sprüche von 'denen' annehmen", schlägt Armin Laschet als Strategie gegen Rechtspopulisten vor. "Ich bin fest davon überzeugt, dass Volksparteien eine Zukunft haben. Wir brauchen Parteien, die für die ganze Gesellschaft denken", wirbt auch Malu Dreyer. Dazu müsse man ehrlich sein, ein überzeugendes Programm haben.

In ihrem Fall bedeutete das, in der Flüchtlingsfrage keinen Deut auf AfD und Co zuzugehen. Für die SPD nennt sie außerdem soziale Gerechtigkeit und Bildung als existenzielle Themen. Sie selbst habe zum Beispiel ein besonders gutes Ergebnis bei jungen Frauen zwischen 25 und 45 gehabt - weil die sich besonders für diese Themen interessieren.

Die eigentlich drängenden Fragen kommen nicht vor

In Österreich zeigt sich da eine interessante Kluft: Während der FPÖ-Kandidat vor allem bei Männern Erfolg hat, wählten 60 Prozent der Frauen den grün-liberalen Van der Bellen. Ein gespaltenes Land, auch nach Geschlecht. Was in Richtung der Redaktion von Anne Will noch eine weitere unvermeidliche Frage aufwirft: Warum diskutieren eigentlich mal wieder vier Männer und nur eine Frau darüber, was "der Wähler" will - wenn "der Wähler" doch zur Hälfte eine Wählerin ist?

Abgesehen von den ärgerlichen Besetzungsgewohnheiten deutscher Talkrunden, weist das auf einen Punkt in der Debatte, den die Runde leider nicht anschneidet: Wie bringe ich in einer Volkspartei den von Abstiegsängsten geplagten Fast-AfD-Wähler und die junge, an Bildung und sozialer Gerechtigkeit interessierte Flüchtlingshelferin zusammen?

Die Talkrunde bei Anne Will konzentriert sich da fast ausschließlich auf die Frage: Wie verhindern wir, dass aus dem Fast-AfD-Wähler ein tatsächlicher AfD-Wähler wird? Das ist zu kurz gedacht, wie der Blick nach Österreich zeigt. Denn Zugeständnisse an den besorgten Bürger mit Rechtsdrall verprellen oft genug diejenigen, deren Stimmen man sicher glaubte.

Die eigentlich drängenden Fragen wären daher: Kann das überhaupt funktionieren, diese zwei Lager in einer Partei? Und muss es das überhaupt? Oder ist es in Ordnung, wenn einfach jeder seiner Wege geht? Und falls ja: Wie kriegt man dann außerhalb der Volksparteien einen Austausch zwischen den Gruppen geregelt? Wahrscheinlich sind das alles Fragen, mit denen sich Vertreter der Volksparteien ungern auseinandersetzen. Denn wer regelt schon gern die eigene Nachfolge, während er noch ums Überleben kämpft.

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