Anne Will:Merkwürdige Zeiten für Polit-Talkshows

Anne Will

Sind sich fast alle einig (von links nach rechts): Sylke Tempel, Max Otte, Heinrich August Winkler, Moderatorin Anne Will, Heiko Maas und Alexander Graf Lambsdorff

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Die "Trumpokratie" sorgt bei Anne Will für ungewohnte Einigkeit unter den Gästen. Nur ein Wirtschaftswissenschaftler bekennt, dass er Trump gewählt hätte.

TV-Kritik von Dominik Fürst

Zu seiner Verteidigung vorweg: Donald Trump ist selbst erstaunt, US-Präsident zu sein. "Neulich betrat ich das Weiße Haus durch den Haupteingang und sagte zu mir: 'Das ist erstaunlich. Es ist in gewisser Weise eine surreale Erfahrung'", bekannte er in einem Fernsehinterview vor dem Super Bowl in der Nacht auf Montag. Aber nicht nur Trump muss mit der neuen Wirklichkeit zurechtkommen, sondern auch 319 Millionen amerikanische Bürger und, nicht zu vergessen: der Rest der Welt.

Um dessen Perspektive geht es bei "Anne Will", die ihren fünf Gästen die Frage stellt, ob die "Trumpokratie" in Amerika eine Gefahr für die freie Welt ist. Weil Trump seine Gegner und ausländische Würdenträger beschimpft, weil er eine Mauer bauen und Strafzölle einführen und Menschen aus muslimischen Ländern am liebsten gar nicht ins Land lassen möchte, ist "Trumpokratie" zumindest ein berechtigtes Wortspiel.

Andererseits hat das Urteil eines Bundesrichters aus Seattle am vergangenen Freitag nicht nur Trumps Einreisebann gegen Menschen aus Iran, Irak, Syrien, Sudan, Somalia, Jemen und Libyen gestoppt, sondern nach zwei Wochen seiner Regentschaft zum ersten Mal gezeigt, was eine Demokratie von einer Autokratie eben unterscheidet: die verfassungsmäßige Beschränkung der Macht des Präsidenten.

Wirtschaftswissenschaftler Otte hätte Trump gewählt

Dass die amerikanische Verfassung im Speziellen und Gewaltenteilung im Allgemeinen gute Erfindungen sind, darüber herrscht bei "Anne Will" Einigkeit. Hätte die Redaktion nicht den deutsch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Max Otte eingeladen, der als Trump-Anwalt auftritt ("Ich hätte ihn gewählt"), die anderen vier Gäste hätten sich gleich zu Beginn der Sendung einvernehmlich die Hände schütteln und Auf Wiedersehen sagen können. Es sind merkwürdige Zeiten auch für deutsche Polit-Talkshows.

Otte, der Trump-Verteidiger, steht die 60 Minuten tapfer bis zum Ende durch, er findet Hillary Clinton nicht reich genug, um eine unabhängige Präsidentin sein zu können, und empört sich über das Titelbild des aktuellen Spiegels, auf dem Trump die Freiheitsstatue köpft. Die überzeugenderen Argumente haben indes die anderen, zum Beispiel Bundesjustizminister Heiko Maas: "Trump geht es um eine einfache Frage: Wer ist für mich und wer ist gegen mich? So kann man kein Land führen."

Trump scheint "nicht zu verstehen, um was es da geht", sagt Maas

Es stimmt ja: Selbst wenn man alle ideologischen Differenzen außer Acht lässt, muss man es für eine schlechte Idee halten, dass ein Mann die Macht über die US-Atomwaffen besitzt, bei dem in Reden, Interviews und Tweets die psychologischen Reflexe eines Grundschülers zu beobachten sind. "Zumindest scheint er nicht zu verstehen, um was es da geht", sagt Maas ganz zu Beginn der Sendung über Trump.

Alexander Graf Lambsdorff hingegen, Vizepräsident des Europäischen Parlaments und FDP-Mitglied, glaubt, dass Trump sich gerade auf einer "steilen Lernkurve" befinde. Es ist eine abgeschwächte Variante der eigentlich bereits verworfenen Theorie, wonach das Amt den Mann schon zügeln werde. Trump pfeift aber auf die Würde des Amtes von Beginn an, weshalb der Historiker Heinrich August Winkler den Begriff der Lernkurve als verharmlosend zurückweist und erklärt, worauf Lambsdorff und andere Demokratie-Fans lieber vertrauen sollten: "Man kann die Hoffnung nicht mehr auf ihn richten, sondern auf jene Generalstaatsanwälte und Richter, die in den letzten Tagen erklärt haben: Niemand steht über dem Gesetz, auch nicht der Präsident."

Das ist nun die spannende, vielleicht existenzielle Frage für die amerikanische Demokratie in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren: Werden Trump und seine Regierung Gerichtsentscheide akzeptieren? Werden sie das heilige Prinzip der checks and balances respektieren? Die Aussichten erscheinen düster, vor allem wenn Trumps sehr rechter Chefstratege Stephen Bannon so viel Macht im Weißen Haus besitzt, wie auch bei "Anne Will" die meisten glauben.

Die Politiker brauchen eine leidenschaftliche Sprache

Was den Rest der Welt betrifft, fällt das Fazit nicht ganz so dunkel aus. Es herrscht die Überzeugung, dass die US-Regierung vor allem einem Land schadet: den USA. Irgendwie sei es positiv für die Europäische Union, wenn Amerika sich wirtschafts- und handelspolitisch abschottet, sagt Heiko Maas: "Wir sind der größte Binnenmarkt. Damit kann man auch Politik machen." Heinrich August Winkler sagt: "Amerika bestraft sich selber."

Das ist jedoch nur so lange beruhigend, bis man sich erinnert, dass auch in Europa jene an die Macht streben, die es mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffenheit nicht so ernst nehmen. Was tun gegen die Trump-Fans Marine Le Pen, Geert Wilders und die anderen Rechten? Die demokratischen Parteien müssten sich und ihre Arbeit der vergangenen Jahre selbst hinterfragen, finden die Politiker in der Runde. Sie sollten ihre Ideen aber auch verkaufen können: Die Politiker müssten wieder eine leidenschaftliche Sprache finden, mit der sie überzeugend für Europa und die Demokratie werben können, sagt die Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik, Sylke Tempel. Und das ist, ganz zum Ende, die klügste Idee aus der Runde.

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