Akademie für Publizistik: Siegertext:Brauchen Journalisten eine Haltung?

Guter Journalismus entsteht durch Unvoreingenommenheit. Nur so kann man einen genauen Blick auf die Wirklichkeit werfen.

Katrin Weber-Klüver

"Brauchen Journalisten eine Haltung?", fragte die Akademie für Publizistik und lobte einen Preis aus. sueddeutsche.de veröffentlicht nachstehend den Gewinnertext.

Akademie für Publizistik: Siegertext: Ob ein Journalist in seiner Arbeit zum neutralen Nachrichtenvermittler oder zum Märchenerzähler wird, hängt nicht zuletzt von seiner eigenen Haltung ab.

Ob ein Journalist in seiner Arbeit zum neutralen Nachrichtenvermittler oder zum Märchenerzähler wird, hängt nicht zuletzt von seiner eigenen Haltung ab.

(Foto: iStockphoto)

Es gibt eine Schule des Zeichnens, die Anfängern die Befürchtung nimmt, sie seien talentfrei, indem sie ihnen ein anderes Problem vor Augen führt: Dass sie immer schon zu wissen glauben, wie ihre Objekte aussehen. Sie haben das Bild eines Gesichtes im Kopf, und wenn sie dann ein konkretes Gesicht abzeichnen, malen sie in Wahrheit nur Symbole für den Mund, die Nase, die Augen.

Um zu zeichnen, was sie tatsächlich sehen, müssen sie alles vergessen, was sie an Vorstellungen gespeichert haben. Sie lernen in dieser Schule, ein Gesicht zu betrachten, ohne seine Bestandteile zu benennen.

Sie studieren keinen Mund, nur Linien: Hier ist eine stark geschwungene Linie, da sehe ich eine winzige dunkle Stelle, dort laufen kleine Striche auseinander. Wenn die Anfänger nur diese Linien zeichnen, entspricht ihre Zeichnung am Ende dem Vorbild. Jedenfalls weit mehr als wenn sie in ihrem eingefahrenen Modus gearbeitet hätten.

Diese Schule lehrt eine naive und zugleich offene Haltung: Ich vergesse, was ich weiß, sehe stattdessen genau hin und setze, was da ist, Stück für Stück zusammen, bis es sich zu einem Ganzen fügt. Um genau diese Haltung geht es auch im Journalismus.

Es geht darum, sich etwas anzusehen, was man zu kennen glaubt, von diesem Vorwissen aber vorübergehend abzusehen und erst einmal Stück für Stück Informationen und Eindrücke einzusammeln, ohne Etikett, ohne Schublade, ohne Sortierprogramm.

Eine wahrhaftige Geschichte entsteht - jenseits davon, ob sie gut oder schlecht geschrieben ist - nur durch Unvoreingenommenheit. Eine wahrhaftige Geschichte entsteht nicht, weil ein Journalist oder seine Redaktion schon vorher wissen, was für eine Geschichte hinterher herauskommen soll.

Gewünschte Geschichte

Einmal schickte mich eine Redaktion in eine Stadt, in der ein alteingesessener Arbeitgeber vor der Insolvenz stand. Die Redakteurin hatte eine Idee: Ich könnte in einen Friseursalon gehen, wo die Frau des Managers neben der Frau des Arbeiters säße und beide würden von ihren Ängsten erzählen.

Ich erwähnte, dass die Frau des Managers und die des Arbeiters möglicherweise nicht denselben Salon besuchen. Das fand die Redakteurin schade. Aber nun, dann sollte ich die Tragödie der Stadt eben in anderen tollen Bildern zeigen.

Vor Ort passierte dies: Die Stadt, die über Jahrzehnte Zehntausende Industrie-Arbeitsplätzen verloren hatte, die längst auf Dienstleistung und Unterhaltung umgesattelt war, diese Stadt war absolut unerschüttert von der drohenden Pleite des alteingesessenen Konzerns.

Es war zwar ein weltweit operierendes Unternehmen, aber vor Ort beschäftigte es nur noch wenige Menschen. In der Stadtverwaltung und Politik war man gelassen, die Leute beim Bäcker, im Café, in der Fußgängerzone redeten gar nicht über das Thema, in der Lokalzeitung wurde es unter ferner liefen abgehandelt.

Sogar der Betriebsrat des bedrohten Unternehmens war gelassen. Nirgends waren Demonstrationen geplant oder Solidaritätsaktionen, nirgendwo hingen Transparente. Wenige Jahre zuvor war das alles anders gewesen und der Kampf um Arbeit mit sehr viel Pathos in die Welt getragen worden. Aber nun ging es einfach nicht mehr um viel, außer um einen alten Namen.

Nach zwei Tagen vor Ort telefonierte ich mit der Redaktion. Ich schilderte, was ich an Eindrücken eingesammelt, in Gesprächen und Interviews erfahren hatte, kurz und bündig: Für die gewünschte Geschichte über eine Stadt in Wut und Schmerz fehlte - eine Stadt in Wut und Schmerz.

Aber, sagte da der Redaktionsleiter, die Angst der Leute vor Arbeitslosigkeit, das müsse doch irgendwie in der Luft liegen. Nein sagte ich, hier läge keine Angst in der Luft, die Leute hier hätten schon ganz andere Sachen erlebt, als dass vielleicht eine Handvoll von ihnen ihren Job verlöre.

Von Ängsten erzählen

Die Redaktion war enttäuscht. Ich bekam keine Aufträge mehr. So befiel immerhin mich vorübergehend Angst vor Arbeitslosigkeit. Und bestimmt wäre die Geschichte von den Frauen beim Friseur, die ein schichtenübergreifendes Gespräch führen, in dem eingenebelt von Haarspray die Angst vor der Zukunft in der Luft gelegen hätte, großartig gewesen.

Hätte ich irgendwie nachhelfen können? Mit Phantasie? Mit Geld? Mit einer flexibleren Haltung?

Nach vielen Übungsstunden kann der lernende Zeichner wieder auf Symbole zurückgreifen, er muss keinen genauen Blick auf die Wirklichkeit werfen, um ein schönes Gesicht zu zeichnen.

Seine abgespeicherten Symbole sehen nun viel lebensechter aus als das Gekrakel, das er als Anfänger produzierte. Wenn in einem Porträt die Tränensäcke stören, die Furchen an den Mundwinkeln, dann lässt der gute Zeichner sie einfach weg.

Wenn sie schon eine Idee von ihrer Geschichte haben, brauchen auch Journalisten, die gut schreiben können, nur noch die Teile der Realität, die sich dieser Idee anpassen. Den Rest können sie freihändig aus der Phantasie gestalten. So wie sie selbst und ihre Redaktionen es wünschen.

Diese Geschichten müssen nicht wahrhaftig sein, weil es darum oft gar nicht mehr geht. Jeder Eindruck, der stört, kann weggelassen, jede Recherche, die neue Fragen aufwerfen und andere Perspektiven eröffnen würde, kann abgebrochen werden. Gute Schreiber können verführerisch schön Märchen erzählen. Wogegen nichts zu sagen wäre, würden sie sie nicht als Wahrheit verkaufen.

Die Frage ist also nicht, ob Journalisten eine Haltung brauchen. Denn irgendeine Haltung hat jeder.

Die Frage ist: Welche haben sie?

Katrin Weber-Klüver ist seit 1992 freiberufliche Journalistin. Zuvor arbeitete als Redakteurin bei der taz in Hamburgn nachdem sie beim Pinneberger Tagblatt volontiert hatte. Weber-Klüver wurde 1966 in Uetersen in Schleswig-Holstein geboren.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: