Münchner Abendzeitung:Das Leben nach dem Tod

Münchner Abendzeitung: Die Abendzeitung, das war Kir Royal, aber auch Straßenverkauf. Dem fühlt man sich nach wie vor verpflichtet.

Die Abendzeitung, das war Kir Royal, aber auch Straßenverkauf. Dem fühlt man sich nach wie vor verpflichtet.

Vor zwei Jahren musste die Münchner Abendzeitung Insolvenz anmelden. Dem Käufer Martin Balle schlug Skepsis entgegen. Heute ist die Legende von einst ein profitables Start-up. Ein Redaktionsbesuch.

Von Claudia Tieschky

"Der Schmerz ist jetzt vorbei", sagt ein Ehemaliger am Telefon. Er hat einen neuen Job, einen guten. Aber der Schmerz, das ist eine andere Sache.

Der 5. März 2014 ist ein Aschermittwoch. Das passt zu dem, was Verleger Johannes Friedmann den Mitarbeitern der Münchner Abendzeitung mitteilt. Friedmann ist Sohn des Gründers Werner Friedmann, seiner Familie gehören auch 18,75 Prozent am Süddeutschen Verlag, in dem die SZ erscheint. Friedmann sagt, dass er für die Abendzeitung Insolvenz angemeldet hat. Das Boulevardblatt macht seit Jahren Verluste, auf zuletzt acht Millionen Euro beziffert sie Friedmann nach seiner Kapitulation. "Hoffnungsloser Fall", sagt er.

Aber man hatte sich in der Redaktion in der Münchner Hopfenpost fast daran gewöhnt. An die roten Zahlen, an immer noch mehr Sparen, an ein Dasein mit Aussicht auf das Weltende. Das kennt man im katholischen Bayern, und die Abendzeitung ist eine Institution, die geht nicht weg, meint man. Für die Leute, die die Bücher kennen, gibt es keine Gewöhnung. Jeden Tag jagen wir den Wert eines Kleintransporters in die Luft, so soll einer die Realität benannt haben. Dann kommt der Aschermittwoch, das Weltende. "Grauenhafter Tag", sagt Michael Schilling.

Schilling steht im Schneetreiben vor einem Bürohaus an der Garmischer Straße in München. Er hat ein schwarzes gutgelauntes Hütchen auf und raucht. Es ist der Morgen nach dem Starkbieranstich am Nockherberg - Singspiel und Fastenpredigt, neben der Wiesn der münchnerischste Moment im Jahr. Die Abendzeitung mit dem zackigen roten Logo gibt es noch. Oder besser: es gibt sie wieder.

Schilling, 45, ist Chefredakteur der neuen AZ; bei der alten war er Lokal- und Vize-Chef. Ein lässiger, lustiger Typ, hinter dem zwei wenig lustige, sehr unlässige Jahre liegen. Neben Schilling tritt Timo Lokoschat, 36, im Schnee von einem Bein aufs andere, sein Stellvertreter. Sie reden über gestern, den Nockherberg, die Ausgabe. Um 19 Uhr ging der erste Andruck vom Hof, wie sie hier immer noch sagen, obwohl weit und breit kein Hof zu sehen ist, ein Schild mit dem Logo Abendzeitung übrigens auch nicht. Allmählich aber kehrt Normalität ein, die Lebensgefahr ist abgewehrt.

Seit Ende 2015 können sie das Blatt bis 23 Uhr abends aktualisieren, weil der Verleger eine neue Druckmaschine gekauft hat. Seither ist man wieder aktuell im umkämpften Münchner Zeitungsmarkt mit der Boulevardkonkurrenz Bild und tz.

Die Zeitung ist jetzt etwas kleiner, und sie gehört dem Verleger des Straubinger Tagblatts, Martin Balle. Beteiligt ist auch der Münchner Wirtschaftsanwalt Dietrich von Boetticher. 34 fest angestellte Journalisten arbeiten heute in der Redaktion, dazu Freie, viele junge Leute. Druck und Verwaltung werden in Landshut und Straubing erledigt. Die Auflage liegt laut Balle bei etwa 50 000 Stück. Offiziell verkaufte die AZ früher 100 000 Stück - "kein echter dramatischer Rückgang", behauptet Balle, "wir haben nur die Luft aus der Auflage rausgelassen, die zu einem großen Teil unbezahlt war".

Hinter der Garmischer Straße beginnt die Autobahn nach Lindau und München franst in Wohnsiedlungen aus. In der Innenstadt war es schöner und teurer, es gab einen zentralen roten Desk, das "Ufo". Angeblich grüßt in den verlassenen Räumen bis heute die einstige Herausgeberin Anneliese Friedmann von der Wand. Sie und andere lieferten das Vorbild für Helmut Dietls leuchtende München-Satire Kir Royal mit ihrem Helden Baby Schimmerlos; nahe beim Marienplatz steht das Bronze-Denkmal für den Spaziergänger und Reporter Sigi Sommer. Die alte Abendzeitung ist eine Legende. Die neue ist ein Start-up.

Die Welt ist nicht untergegangen - oder doch? Frühere Mitarbeiter sagen, "das ist nicht mehr meine Abendzeitung". Sie meinen das nicht nur buchstäblich. Nach der Insolvenz war die Zeitung anfangs ein Schatten ihrer selbst. Aber sie ist noch da.

Nach dem WM-Finale erscheint die AZ ohne die Sensation

Am 2. Juli 2014 betritt Schilling mit 15 anderen das neue Büro. Es gibt Rechner, es gibt Möbel. Kein Redaktionssystem. "In diesen ersten Tagen hat man sich schon mal bei dem Gedanken erwischt: Hoffentlich erscheint auch morgen eine Zeitung", sagt Timo Lokoschat. Monatelang ist um 19 Uhr Schluss, mehr Aktualität gibt Balles Druckerei auf die Schnelle nicht her.

Was dann im Juli 2014 passiert, gehört zu den größten vorstellbaren Niederlagen. Deutschland wird Fußball-Weltmeister. Die Abendzeitung erscheint am nächsten Morgen wegen des frühen Andrucks ohne die Sensation. "Wir haben hier tatsächlich ganz klein begonnen", sagt Schilling mit liebevollem Sarkasmus, oder sarkastischer Liebe, schwer zu sagen.

Dass es die Abendzeitung da überhaupt noch gibt, liegt auch an dem Insolvenzverwalter Axel Bierbach. Der erhöht den Preis um 40 Cent auf einen Euro und 1,20 Euro am Samstag. Das verschafft einen Monat mehr Luft. Der entscheidende Aufschub. Der Insolvenzantrag erlaubt es, sich von einem verhängnisvollen Druckvertrag zu befreien. Trotzdem will keiner der 37 Interessenten, die die Zahlen prüfen, die gedruckte Zeitung weiterführen.

Viele in der Branche hatten Balle nicht zugetraut, liberal genug für ironischen Boulevard zu sein

Am 18. Juni, als die Redaktion schon die letzte Ausgabe fürs Museum vorbereitet, unterschreibt ein Mann, den kaum einer kennt. Dann öffnet er sein Köfferchen, holt Stift und Zettel hervor und führt Bewerbungsgespräche. Es bleiben etwas mehr als zehn Tage bis zur ersten Ausgabe.

Was wurde aus allen? Im April 2015 lautet eine Bilanz: Von 94 Mitarbeitern der eigens gegründeten Transfergesellschaft arbeiten 31 in einem Verlag, vier in PR-Agenturen; vier sind selbstständig, 14 "in einem anderen Bereich tätig", sechs sind arbeitslos. Chefredakteur Arno Makowsky wurde stellvertretender Chefredakteur beim Tagesspiegel, Vize Georg Thanscheidt ist Textchef der Bunten. Was fortbesteht, ist eine geschlossene Facebook-Gruppe früherer AZ-Leute. Wesenskern der Zeitung, sagt ein Ehemaliger, war immer die völlige Identifikation der Leute mit dem Blatt.

Wenn man Michael Schilling nach der Linie seiner Abendzeitung fragt, dann zitiert er ein Redaktionsstatut, das es längst nicht mehr gibt. Da stand, die Abendzeitung ist eine "kritisch liberale Straßenverkaufszeitung". Humorvoll münchnerisch will er es, "auch in der Art, wie wir es aufschreiben". Als in der Silvesternacht der Hauptbahnhof wegen einer Terrorwarnung geräumt wird, geht die Abendzeitung mit der lakonischen Schlagzeile raus: "Das geht ja gut los". Da war er wieder, der alte Sound.

Den Geist, den Witz, den Esprit - der linke, mitunter auch einfach ironische Boulevard, die Liberalität dafür haben viele in der Branche Balle nicht zugetraut. Aber er tritt an mit der Ankündigung, sich nicht ins Redaktionelle zu mischen, und er hält Wort. Noch eine Sache läuft anders als anfangs kolportiert. Die AZ bezieht keine Texte vom Straubinger Tagblatt. Sie kann aber dessen Korrespondenten beauftragen. Außerdem liefert sie ihrerseits Feuilletontexte sowie Berichte über München und die Fußballclubs FC Bayern und 1860 für Balles niederbayerische Titel. "Die Synergien laufen heute umgekehrt, als ich mir das ursprünglich vorgestellt habe", sagt Balle.

Über den Straubinger haben viele gespottet, der Verleger aus der Provinz, vom "Ballermann" war die Rede. Die Wahrheit ist, Balle und seine Redaktion, da haben sich zwei gefunden, die sich was trauen. Weihnachten hat Balle seinem Doktorvater mit Freude geschrieben, die Atmosphäre in der Abendzeitung sei wie früher im wissenschaftlichen Oberseminar - was ein schräger Vergleich ist, aber bestimmt liebevoll. Es gibt Leute, die halten Balle für einen Kauz. Mit Sicherheit ist er Enthusiast, vor allem aber Geschäftsmann.

Die Abendzeitung, die er "für relativ wenig Geld" bekam, war bei ihm von Beginn an profitabel, sagt er, "weil wir ja mit einer ganz kleinen Mannschaft gestartet sind". Was er damit verdient, sagt er nicht, viel sei wieder investiert worden. "Alles was die Abendzeitung selbst betrifft, haben wir gut in den Griff gekriegt. Alles was die Zeitungsbranche betrifft, da sind wir genauso betroffen wie jeder andere", sagt er. Aber "Angst hab ich keine - ich komm aus Niederbayern."

Manchmal sind sich die alte und die neue Abendzeitung auch ganz nah. Michael Schilling geht gern in die berühmte Deutsche Eiche am Münchner Gärtnerplatz; die Eisdiele Al Teatro direkt daneben ist ein Stammplatz von Michael Graeter, dem legendären Klatschkolumnisten der alten Abendzeitung, Vorbild für die Figur Baby Schimmerlos. Graeter sagt über die neue Abendzeitung: "Das Feuilleton ist okay, der Rest ist Jugend forscht". Es klingt ein bisschen gehässig, aber über Tote würde man nicht so reden.

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