Zeitungskrise:Wo die Demokratie lebt

Die Nachricht vom Insolvenzantrag der "Frankfurter Rundschau" ist ein Schock. Das Ende einer überregionalen Zeitung, die älter als dieser Staat ist, wäre ein tiefer Einschnitt. Die Lebensgefahr des Blatts spiegelt ein schwieriges Umfeld. Doch der Qualitätsjournalismus mit seinem intellektuellem Reichtum und seiner politischen Schärfe muss über die Krise gerettet werden.

Gustav Seibt

Die Nachricht vom Insolvenzantrag der Frankfurter Rundschau ist ein Schock, auch wenn man einräumen muss, dass bei diesem Blatt zuletzt viel falsch gemacht wurde. Als die Krise nicht mehr zu leugnen war, reagierten die Verantwortlichen panisch: Sie warfen ein altgewohntes, nur renovierungsbedürftiges Layout über Bord, änderten aber wenig an Kommentaren, die ausrechenbar geworden waren.

Dann verschmolzen sie die überregionale Redaktion mit der Berliner Zeitung. Zeitungen aber sind lebendige Organismen, die man ebenso wenig einfach fusionieren kann wie Orchester. Hier das ruhmreiche zweitälteste Lizenzblatt der westlichen Besatzungsmächte, dort die ehemalige SED-Bezirkszeitung mit ihrer aufregenden Nachwende-Geschichte, hier Frankfurt, da Berlin: So viel Geschichte darf man nicht zusammenwürfeln, nur um Layouter und Korrespondenten einzusparen.

Die Leser erkannten ihr Blatt immer weniger wieder, und so verlor die Rundschau das Wichtigste, was eine Zeitung sich erarbeiten kann: die Rolle als vertrauter täglicher Begleiter. Doch trotz solcher Kopflosigkeiten: Das Ende einer überregionalen Zeitung, die älter als dieser Staat ist, wäre ein tiefer Einschnitt. Denn die Lebensgefahr für die Frankfurter Rundschau lässt sich aus eigenen Fehlern allein nicht erklären, sie spiegelt ein schwieriges Umfeld.

Die Schreckensmeldung von der Rundschau kam zwei Tage nach dem Tod von Wilhelm Hennis. Das Zusammentreffen dieser Meldungen hat etwas Symbolisches. Der Politologe Hennis war einer jener Intellektuellen und Wissenschaftler, die sich des Mediums bedienten, das nun in Gefahr ist: der gedruckten Zeitung. Die Bundesrepublik wurde auch erbaut auf den herrlichen Bleiwüsten ihrer großen und leidenschaftlichen Debatten, aus dem Zusammenwirken von politischem Journalismus, kultureller Reflexion und akademischer Brillanz.

Länder mit miserabler Presse sind schlechter regiert

Von der Wiederbewaffnung bis zur Sarrazin-Debatte sind die Weichenstellungen des Landes am gründlichsten hier zur Sprache gekommen, auch in der Frankfurter Rundschau. Begriffe wie "Verfassungspatriotismus" und "Parteienstaat" wurden in Zeitungsartikeln zum ersten Mal vorgestellt, andere wie "Vergangenheitsbewältigung" und "Bildungskatastrophe" wurden dort zur gängigen Münze. Notstandsgesetze, Ostpolitik, RAF-Terror, die Umweltbewegungen, die Wiedervereinigung, die ersten Kriegseinsätze der Bundeswehr, die demografische Krise - all das waren nicht nur Nachrichten, sondern Gegenstände gründlicher öffentlicher Untersuchung. Der Spiegel wurde zum Sturmgeschütz der Demokratie in einem handfesten Sinn; aber auch Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung sind Bastionen, ohne die das demokratische Leben insgesamt verarmen würde.

In andern Ländern gibt es diese sogenannten Medienlandschaften ohne Qualitätsjournalismus schon: viel machtgesteuertes Fernsehen und Blätter, die ihre Kundschaft teils aufhetzen, ihr teils nach dem Mund reden. Länder mit miserabler Presse sind schlechter regiert und haben mehr extremistische Parteien, da helfen schlaue Blogs bisher wenig. Es stimmt ja, was Kommentatoren im Netz jetzt der Rundschau ins offene Grab rufen: Mit der digitalen Kommunikation haben sich nicht nur die Geschäftsmodelle und Verbreitungswege der Presse verändert, sondern auch die Art, wie sie produziert und gelesen wird.

Reicht das nicht?

Heute schreiben und für morgen drucken, das reicht nicht mehr, wenn Nachrichten im Minutentakt abrufbar sind. Eine Zeitung, die heute keine reichhaltigen Internet-Angebote machte, würde Selbstmord begehen. Und selbstverständlich lassen sich Abhandlungen von Hans-Werner Sinn oder Jürgen Habermas auch am Tablet-Computer bequem lesen, für manche sogar bequemer als auf Papier, weil im elektronischen Medium der Gang zum Lexikon eingespart werden kann.

Dass der Abstand zwischen den Journalisten und den Lesern geringer geworden ist, seit Leserkommentare unter den Artikeln stehen, ist inzwischen Alltag. Auch hat die elektronische Zeitung jedenfalls theoretisch einen großen Reiz für Verlage, in deren Kalkulationen der Druck und Vertrieb von Papierzeitungen mehr als die Hälfte der Kosten ausmachen. Beschleunigter Rhythmus, direkterer Zugang zu den Lesern, billige Verbreitungswege - all das bietet das Netz, von dem viele ja ohnehin glauben, es sei künftig der natürliche Ort für Öffentlichkeit.

Und reicht das nicht? Würde es nicht genügen, Neuigkeiten, die sich fast von alleine verbreiten, mit einer aufmerksamen, nichts ungeprüft und unkommentiert lassenden Netzgemeinde zusammenzuführen, und der alte schwerfällige Apparat der Zeitung hätte ausgedient? Wenn das Netz die Begutachtungsarbeit akademischer Prüfungskommissionen buchstäblich über Nacht erledigen kann, wenn Staatsrevolutionen auf Facebook und Youtube angezettelt werden können, warum dann noch der umständliche Druck auf Papier? Es ist immer traurig, wenn eine Technologie ausstirbt, aber das ändert ja nichts am Lauf der Welt: Der Tag, an dem anfassbare Zeitungen nostalgische Museumsstücke sind, ist jedenfalls denkmöglich geworden, auch wenn er noch sehr fern zu sein scheint.

Was bisher nicht ersetzt werden konnte

Doch die Träume vom Crowd-Paper im Netz könnten sich als Illusionen herausstellen. Denn was bisher im Netz nicht ersetzt werden konnte, ist die Redaktion, der lebendige Arbeitszusammenhang, in dem die Reichtümer, an die wir uns gewöhnt haben, zusammengebracht, meist sogar hervorgebracht wurden: das Produkt, in dem der lange Wilhelm-Hennis-Artikel zusammen mit der großen Reportage, dem Leitartikel, der Buchrezension und unzähligen Nachrichten erscheint.

Und die Redaktion als Lebens- und Arbeitsform, der leibhaftige Organismus mit seiner Aufgeregtheit, seiner Geschichte, den unterschiedlichen Bildungswegen der Teilnehmer und der permanenten wechselseitigen Kritik: Das wird man auch künftig nicht virtualisieren können, genauso wenig wie sich Politik virtualisieren lässt. Ob man die Zeitung auf Papier oder am Bildschirm liest, ist nicht entscheidend. Das werden die Leser jeweils für sich entscheiden, und vermutlich werden beide Formen nebeneinander bestehen bleiben.

Was über die Krise gerettet werden muss, ist nicht notwendig die Zeitung auf Papier, sondern die Zeitung als Produkt, der Qualitätsjournalismus mit seinem intellektuellem Reichtum und seiner politischen Schärfe. Diese Gesellschaft ist viel zu komplex, viel zu angewiesen auf Analyse und Kritik, um auf eine reichhaltige Presse verzichten zu können.

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