Zweiter Weltkrieg im Osten:Erinnerungen an einen bestialischen Krieg

Bauern in einem Schutzloch an der Ostfront, 1941

Ostfront 1941: Ein deutscher Militärfotograf spürt russische Zivilisten auf, die in einem Erdloch Schutz vor den Kämpfen zwischen Wehrmacht und Roter Armee gesucht haben.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Der Deutsche erzählt weinend vom Soldatenleben - und die Russin davon, wie Hungernde Katzen und Ratten gegessen haben. Besuch bei zwei der letzten Zeitzeugen von Hitlers Vernichtungskrieg im Osten.

Von Veronika Wulf

Das Mädchen lag im Bett und fror. Die Wände waren mit Reif bedeckt, der Boden mit einer Eisschicht überzogen, in den Fenstern fehlten die Scheiben. Eine Bombe hatte ein Loch in die Decke gerissen und ließ die Kälte herein. Die Fünfjährige war allein. Ihre Mutter war arbeiten, der Vater im Krieg, die anderen Hausbewohner gestorben.

Die Mutter hatte alle Decken über die Tochter geworfen, Laken, Lumpen, alles was sie finden konnte, bevor sie zu ihrer Nachtschicht in die Kartonagenfabrik gegangen war. Das Radio lief ständig. Meist schlief das Mädchen zu russischen Opernarien ein. Wenn der Bombenalarm die Gesänge übertönte, blieb sie liegen. Zu anstrengend war der Weg fünf Stockwerke hinab in den Keller.

So erzählt es die Russin Diana Medvedeva heute, fast 75 Jahre später. Sie ist eine der Zeitzeugen, die noch vom Kriegswinter 1941/42 in Leningrad berichten können. Keine zweieinhalb Monate, nachdem die Wehrmacht in Russland einmarschiert war und Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begonnen hatte, umzingelten die Deutschen am 8. September 1941 Leningrad, das heutige St. Petersburg.

Zweiter Weltkrieg im Osten: Zeitzeugin Diana Medvedeva

Zeitzeugin Diana Medvedeva

(Foto: Veronika Wulf)

Die Stadtbewohner waren abgeschnitten vom Rest des Landes, sie hatten weder Strom noch ausreichend Nahrung. Ziel des sogenannten Hungerplans der Nationalsozialisten war es, die Menschen in der Stadt gezielt krepieren zu lassen. Bis zum 27. Januar 1944 dauerte die Leningrader Blockade, 900 Tage, in denen mehr als eine Million Menschen auf elende Weise ums Leben kamen - verhungert, erfroren, von Bomben getötet.

In den vergangenen Jahrzehnten war es selbstverständlich, Eltern oder Großeltern zu haben, die aus dem Krieg erzählen konnten. Diese Zeit geht zu Ende. Die Geschichtsvermittlung wird dadurch eine andere. "Das Unmittelbare geht verloren", sagt Andrea Riedle, stellvertretende Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, "die menschliche Dimension der Verbrechen, die durch Zeitzeugen deutlich wird." Die wenigen, die noch leben, sind über 80, oft über 90 Jahre alt. Diana Medvedeva ist 81. Sie war gerade fünf Jahre alt geworden, als die Wehrmacht ihre Heimatstadt Leningrad abriegelte.

Sie lebt heute in Deutschland. Als ihr Mann die Tür ihrer Kölner Wohnung öffnet, läuft im Hintergrund eine russische Oper im Fernsehen. Normalerweise ist er es, der erzählt. Evgeny Karchemnik, 77, ist stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands der Veteranen, Ghetto- und KZ-Gefangenen sowie der Überlebenden der Leningrader Blockade.

Er weiß historische Daten, Zahlen und Ereignisse auswendig, intensiv hat er sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, organisiert Ausstellungen und hält Vorträge. An die Leningrader Blockade erinnert er sich aber nicht mehr, er war erst ein Jahr alt, als sie begann. Er ist der mit dem Wissen, seine Frau ist die mit den Erinnerungen.

Medvedeva setzt sich zögernd zu dem Besuch an den Tisch, schüchtern streicht sie die Tischdecke glatt. Dann beginnt sie zu erzählen. Wie die Nachbarhäuser in Leningrad alle zerbombt wurden, nur das Haus, in dem sie wohnten, stand bis zuletzt. Wie sie die Leimblöcke aus der Schreinerwerkstatt des Vaters, die aus Knochen und Fischgräten hergestellt waren, Stück für Stück zu Suppe auskochten. Wie ein Mann ihrer Mutter auf der Straße die kleine Handtasche mit den Brotkarten entreißen wollte, es aber nicht schaffte, so schwach war er vor Hunger.

Der Hunger ließ die Muskeln zurückbilden

Medvedeva weiß noch genau, wie sie die Brotrationen, die sie in der Bäckerei abholte, auf das Gramm genau abwogen. Um auf 125 Gramm zu kommen, legte die Bäckerin einzelne Krümel dazu. "Das waren dann meine", sagt Medvedeva und schließt die Augen, als ließe sie sich ein Stück Schokolade auf der Zunge zergehen. Heute hat sie runde Wangen und kräftiges, schlohweißes Haar. Während der Blockade zeichneten sich ihre Knochen spitz unter der Haut ab, ihre Muskeln bildeten sich zurück, sie litt unter Dystrophie.

Täglich gingen Freiwillige durch die Häuser und nahmen die Toten mit. Manche Leute warfen die Leichen einfach auf die Straße, sagt Medvedeva. Deutsche Fliegerbomben und Granaten der schweren Artillerie hatten die Getreidevorräte in Brand gesetzt und die täglichen Essensrationen, die jedem zustanden, wurden immer weiter gekürzt. Bald gab es keine Katzen mehr in Leningrad. "Unsere wurde gleich geschnappt und verspeist", sagt Medvedeva. Dann kamen die Ratten.

Medvedeva erinnert sich, wie ihre Großmutter tot auf dem Bett lag, nachdem ein Bombenangriff ihr Herz zum Stillstand gebracht hatte. Eine Ratte kletterte an ihrem langen Zopf hinauf, der von den Kissen bis zum Boden reichte.

Es sind Erinnerungen, die in keinem Geschichtsbuch stehen. Geschichten, die mit dem Tod der Zeitzeugen verschwinden, wenn sie vorher nicht aufgeschrieben oder aufgenommen werden.

Wortlos steht Medvedeva auf und holt aus dem Nebenzimmer eine metallene Erkennungsmarke, die man aufklappen kann. Darin liegt ein vergilbter Zettel, in schräger Tintenschrift geschrieben: "Sagt meiner Frau und meiner Tochter, ich bin gefallen, indem ich für sie gekämpft habe." Im September 1941, drei Monate nach Kriegsbeginn, hatte Medvedevas Mutter die Mitteilung bekommen, ihr Mann sei verschollen.

Medvedeva erinnert sich kaum an ihn. Drei Jahre später trat ein russischer Offizier an seine Stelle, der die Mutter mit Brot versorgte. Auf dem Boden der eisigen Wohnung gebar sie einen Jungen von ihm. Medvedeva mochte den Mann mit dem dicken Fellmantel. "Der Mantel war so warm", sagt sie. Ein Jahr später fiel auch der Offizier.

Das Ehepaar Medvedeva und Karchemnik ist wegen seiner Söhne nach Deutschland gezogen. Ganz wohl ist Karchemnik nicht bei dem Gedanken, dass er im gleichen Land lebt wie frühere Wehrmachtssoldaten. Er hasst sie nicht. "Aber die Veteranen in Russland fristen in unglaublicher Armut ihren Lebensabend", sagt er. "Und ihre ehemaligen Gegner sind hier geehrte Bürger und führen ein gutes Leben."

"Wir haben uns die ganze Zeit gefragt: Wann ist dieser Scheißkrieg endlich zu Ende?"

Einer dieser ehemaligen Gegner ist Gerhard Richter. Er diente als Pionier bei der Wehrmacht, von 1937 bis Kriegsende, er war in Polen, Frankreich und Russland. Nun ist Richter 101 Jahre alt. Aufrecht sitzt er auf einem Holzstuhl im Wohnzimmer einer Berliner Wohnung, die hell und voll mit Büchern ist.

Immer wieder einmal verfängt er sich in Erzählschlaufen, sagt mehrmals, dass er als Junge in einer Artistengruppe geturnt hat. Manches verschwimmt im Nebel der Erinnerung, anderes aber weiß er noch glasklar, ein Datum, eine Szene.

Am Anfang seiner Soldatenzeit, zum Beispiel, als Hauptmann Hammer vor der Kompanie stand und rief: "Richter zwei, vortreten." Gerhard Richter war einer von drei Soldaten mit diesem Nachnamen. "Sie werden ab sofort in die Schreibstube versetzt", sagte der Hauptmann.

Zweiter Weltkrieg im Osten: Zeitzeuge Gerhard Richter.

Zeitzeuge Gerhard Richter.

(Foto: Veronika Wulf)

Wahrscheinlich erinnert sich Richter deshalb so gut daran, weil ihm diese Entscheidung wohl das Leben rettete. Er musste nicht an die Front, schrieb stattdessen Berichte und übermittelte Befehle. "Den ganzen Krieg über", sagt er und hebt den Zeigefinger. Das ist ihm wichtig. Auch, dass er nicht Soldat werden wollte, sondern musste.

"Wir haben uns die ganze Zeit gefragt: Wann ist dieser Scheißkrieg endlich zu Ende? Wann können wir endlich nach Hause?" Zuhause, das war Magdeburg. Dort wartete Richters Frau auf ihn, seine Jugendfreundin Inge, die er im Fronturlaub 1941 heiratete. 1943 kam die gemeinsame Tochter zur Welt.

Das Schlimmste war für Richter der Tod seines Kameraden Willy Kanngießer. "Willy war mein bester Freund. Schon in der Ausbildung stand er neben mir, gleiche Größe", sagt Richter.

1941 in Russland erhielt der Kamerad die Nachricht, er werde einen Gutshof in Spanien erben, mit Apfelsinen- und Zitronenplantage. "Und Willy hat gesagt: Wenn der Krieg zu Ende ist, kommst du mit mir nach Spanien, als Verwalter auf meinen Gutshof." Vier Tage später war er tot, "ein glatter Herzschuss". Richter bereitete ihm ein Grab und legte Blumen ab, bevor die Kompanie weiterzog. "Willy und ich, wir waren ein Ei und ein Kuchen", sagt Richter leise.

Er hat etwas Verletzliches, dieser kleine, alte Mann in seinem Holzstuhl, der mühsam sein Gedächtnis nach Erinnerungsfetzen durchsucht, die mehr als 75 Jahre zurückliegen. Immer wieder zuckt er nach vorne, als wolle er aufstehen, und mitten im Erzählen bricht er plötzlich in Tränen aus und wird von heftigen Schluchzern geschüttelt.

Er habe nie eine Waffe auf jemanden gerichtet, sagt Gerhard Richter. Seine Kompanie drang 1941 bis einige Kilometer vor Moskau vor, im Süden bis zur georgischen Grenze, er war im Kaukasus und auf der Krim. Doch immer sei seine Schreibstube ein paar Kilometer hinter der Front aufgestellt gewesen.

"Manches will ich einfach nicht wissen", sagt die Tochter des Veteranen

Es ist schwer zu sagen, ob es Verleugnung ist, Verdrängung oder das nicht mehr ganz so gut funktionierende Gedächtnis, wenn er bestimmten Fragen ausweicht. Was trieb ihn an in diesem Krieg? Was hielt er von Hitlers kranker Ideologie? Empfindet er Schuld? Die Antworten sind immer die gleichen: "Das kann man nicht sagen", "diese Frage hat sich damals nicht gestellt" oder: "Das weiß ich nicht mehr."

Richters Tochter, die mit ihm zusammen wohnt, sagt: "Ich glaube, er schläft nachts schlecht. Seit Jahren." Sie weiß nicht, welche Grausamkeiten ihr Vater im Krieg erlebte: "Manches will ich einfach nicht wissen."

1941/42 - Die SZ-Serie

Als Richters Erinnerungen noch etwas besser waren, verfasste er ein Buch über sein Leben, das er für Freunde und die Familie drucken ließ. Darin schreibt er: "Dass wir, auch hinter der Front, erschreckende Erlebnisse erfuhren und aushalten mussten, ist ohne Frage. Ich will auch nicht verschweigen, dass ich einiges davon bewusst verdrängt habe. Vieles war und ist nur durch Schweigen zu ertragen."

Die Kriegsjahre 1941 bis 1944 überspringt er in dem Buch fast komplett. Nur einzelne, meist heitere Anekdoten und den Tod seines Kameraden erwähnt er.

Nicht immer sind sich Historiker und Zeitzeugen einig über die Vergangenheit. Viele aus der Erlebnisgeneration mokierten sich über die kritische Geschichtswissenschaft: Über den Krieg könne nur der wirklich erzählen, der "dabei gewesen ist". Der Historiker Wolfgang Wippermann von der Freien Universität Berlin bezeichnet den Zeitzeugen deshalb als "Freund und Feind des Historikers zugleich."

Mit dem Aussterben der Zeitzeugen gehe die "erlebte und erlittene Geschichte" als Ergänzung zu anderen historischen Quellen verloren. "Gerade in der Vermittlung von Geschichte waren Zeitzeugen eine unverzichtbare Hilfe." Nicht nur Kindern und Jugendlichen wird Historie dadurch zugänglicher. Auch Erwachsenen können Zeitzeugenberichte helfen, ihre Eltern oder Großeltern zu verstehen, die nicht selbst in Worte fassen können, was ihnen widerfahren ist.

Der Zeitzeuge sei "Freund und Feind des Historikers zugleich". Das Erlebte ist oft nicht zu fassen

Diejenigen, die erzählen, konzentrieren sich oft auf die schönen Dinge. Richter erzählt lieber von seiner Artistengruppe als von Gefallenen, Schuld und was er sich dabei gedacht hat. Diana Medvedeva spricht lieber über die glitzernden Kleider der Opernsängerinnen am Theater, an dem sie nach der Blockade Ballett lernte, als von Leichenbergen, die aus der Stadt gekarrt wurden. Vermutlich waren es diese Ereignisse, die ihnen damals Hoffnung gaben.

Eine Frage treibt Medvedeva bis heute um: wie ihr Vater gestorben ist. "Wurde er von einem Panzer überrollt? Ist er in einem Morast ertrunken? Wurde er erschossen? Es gibt mir einfach keine Ruhe", sagt sie. Wenn sie nachts nicht einschlafen kann, singt sie Opernarien.

Seit den eisigen Nächten im besetzten Leningrad kann sie sie auswendig. Ihr Mann hatte erst vor Kurzem erfahren, wann sein Vater starb, der ebenfalls für die Rote Armee gekämpft hatte. Eine Freiwilligenbrigade, die Ausgrabungen in den Gebieten vornimmt, hat es herausgefunden. Demnach fiel er am 23. Juni 1941 bei Brest. Einen Tag nach Kriegsbeginn.

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