Zu Besuch bei einem Gesangsseminar:"Und jetzt alle!"

Proben zum Musical "Anatevka" in der Jüdischen Gemeinde in München, 2011

Wer nach einem Gesangsseminar regelmäßig mit anderen Singen möchte, könnte auch einen Chor gründen, so wie diese Laienschauspieler in der Jüdischen Gemeinde in München.

(Foto: Stephan Rumpf)

Unter der Dusche, im Auto, beim Abspülen oder Spazierengehen: Wer singt, tut etwas Sinnvolles für Körper und Seele. In einem Gesangsseminar wollen es deshalb auch Menschen lernen, die bisher nicht musikalisch waren - mit unterschiedlichen Folgen.

Von Titus Arnu

Jauuuuuuul! Stöööööhn! Gääähn! Am Anfang hört es sich an wie ein Rudel Hirsche im Stimmbruch. Etwa 30 Leute sind ins "Shadil" gekommen, einen "Raum für Bewegung und Stille" in Hannover. Aber Stille ist nicht das Ziel an diesem grauen Wintertag. Im Gegenteil, es geht darum, seiner Stimme freien Lauf zu lassen. Am Anfang ganz intuitiv, ohne Noten, ohne Text, dafür aber mit Dehn- und Streckübungen für den ganzen Körper. Es entwickelt sich ein wilder Mix aus Entspannungsgymnastik und urtümlichen Lauten.

Wer jetzt außen am "Shadil" vorbeigeht und das Gestöhne hört, das aus dem "Raum für Bewegung und Stille" dringt, könnte denken, dass da ein Kurs für Geburtshilfe stattfindet. Oder eine Urschrei-Therapie. Manche Teilnehmer zögern anfangs etwas, sich akustisch so richtig gehen zu lassen, doch nach zehn Minuten sitzen alle mit geschlossenen Augen im Stuhlkreis und geben Töne von sich. Manche summen, andere ächzen, einige wimmern. "Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Bach", sagt Karl Adamek, der das Seminar "Heilsames Singen" in Hannover leitet, "lassen Sie es fließen".

Bei einigen Teilnehmern fließen die ersten Tränen

Wenig später fließt es. Wie von alleine bilden sich verschiedene Stimmlagen heraus. Hohe, glockenhelle Soprane, die über allem schweben, viele warme Altstimmen, vier Tenöre und zwei Bässe. 30 Menschen, die vor Kurzem noch Fremde waren, stehen jetzt im Kreis und erzeugen gemeinsam ein erstaunlich rundes Klanggebilde. Es klingt harmonisch, man hört Obertöne schwingen, es entsteht ein einzigartiger, leicht schräger Sound, den man nicht auf dem Klavier nachspielen könnte. Bei einigen Teilnehmern fließen die ersten Tränen. Andere strahlen übers ganze Gesicht.

Gesang dringt über die Ohren durch den ganzen Körper bis ins Herz. "Singen kann einen ins innere Optimum bringen", sagt der Musiksoziologe und Psychologe Karl Adamek aus Hattingen im Ruhrgebiet. Er hat viele Jahre lang zum Thema Gesang wissenschaftlich geforscht, er ist selbst Musiker und er hat das Netzwerk "Il canto del mondo" gegründet, eine internationale Organisation, die das Singen als Alltagskultur fördert. Es geht dabei eben nicht um Kunst, sondern um den Gesang von Laien.

Ob unter der Dusche, im Auto, beim Abspülen oder beim Spazierengehen: Wer singt, und sei es noch so schief, tut etwas Sinnvolles für seinen Körper und seine Seele. Wenn unsere Stimmbänder in Schwingung versetzt werden, vibrieren der Brustkorb, der Kopf und der Bauch mit. Auch die Psyche reagiert wie ein Resonanzkörper.

Singen hat etwas fast Mystisches

Am Anfang mag es einem noch peinlich erscheinen, mit einer Gruppe von Erwachsenen zusammen zu singen, dann lässt man sich darauf ein, merkt, dass einen die Gruppe stützen und tragen kann, traut sich mehr, bekommt eine Gänsehaut - und verschmilzt mit den anderen Stimmen zu einer Einheit.

Singen kann Ungläubige gläubig machen, Fußballfans friedlich stimmen und Soldaten auf den Kampf einschwören. Es ist etwas Urtümliches, fast Mystisches. Der musikalische Gebrauch der Stimme ist wahrscheinlich die älteste Ausdrucksform des Menschen. "Das Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen", sagte der Geiger und Dirigent Yehudi Menuhin, der kurz vor seinem Tod im Jahr 1999 noch die Schirmherrschaft von "Il canto del mondo" übernahm.

Menschen können sich ja tatsächlich ohne Worte auf einer emotionalen Ebene verstehen. Man hört allein am Klang der Stimme, was der andere ungefähr meint. Ist es ein Knurren oder ein Schnurren? Ein Grummeln oder ein Gurren? Lange bevor Babys Sprache verstehen, hören sie Melodien, die ihnen die Eltern vorsingen, wenn sie Glück haben, sogar schon vor der Geburt. Singen ist nach wie vor die beste Einschlafhilfe für Kinder und das wirksamste Mittel der Völkerverständigung.

In unserer Gesellschaft wird zu wenig gesungen

Doch in unserer modernen Gesellschaft verkümmert der Gesang immer mehr. Es trällert zwar den ganzen Tag aus Radios, iPods oder Berieselungsanlagen in Supermärkten. Kinder in Deutschland wachsen mit einer Dauermusikbeschallung auf - aber die wenigsten von ihnen singen selbst oder spielen ein Instrument. Während bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts Singen noch in unserer Lebenswelt verankert war, hört man heute außerhalb von Chören und Castingshows kaum noch jemanden singen.

Das ist auch eine Spätfolge der Nazi-Zeit, als Volkslieder und Chöre für nationalistische Zwecke missbraucht wurden. Gemeinsames Singen wurde in der Nachkriegszeit zunehmend skeptisch betrachtet oder teilweise als undemokratische Form der Manipulation von Gefühlen abgelehnt. In unseren leistungsorientierten Schulen sind Mathematik- und Deutschnoten viel wichtiger als Noten, die man singen kann. Zugunsten von Sprachen und Naturwissenschaften wird der Musikunterricht in Deutschland immer weiter beschnitten.

Ein Fehler, denn Singen tut nicht nur emotional gut, es fördert auch die geistige Entwicklung und die Gesundheit. Der Neurologe Gerald Hüther bezeichnet Singen als "Balsam für die Seele" und "Kraftfutter für die Gehirne" von Kindern. Singen aktiviere die Fähigkeit zur Einstimmung auf andere und schaffe so eine positive Grundlage für den Erwerb sozialer Kompetenzen wie Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme, schreibt Hüther.

Singen als "innere Hausapotheke"

Gesangstipps für Einsteiger

"Wer gehen kann, kann tanzen, wer sprechen kann, kann singen", lautet eine indianische Weisheit. Aus Angst vor schiefen Tönen trauen sich viele Leute trotzdem nicht zu singen. Der Musiktherapeut Karl Adamek sagt: "Jeder kann seine natürliche Stimme entdecken." Hier seine Tipps für Gesangsneulinge. 1. Vergleichen Sie sich nie. Werten Sie sich nie ab. Es geht um Wohlfühlen und Entdeckerfreude, nicht um Leistung. Fangen Sie an einem geschützten Ort an, Ihre Stimme zu finden.

2. Singen Sie in einer entspannten Wohlfühl-Tonlage, spielerisch und ohne Druck. Nicht zu hoch und nicht zu tief.

3. Lassen Sie den Atem entspannt strömen. Legen Sie Ihre Töne auf den Atem wie Blätter auf einen stillen Bach. Experimentieren Sie mit dem An- und Abschwellen des Atems.

4. Erkunden Sie die Klangqualitäten der Vokale A, E, I, O, U - tönend über viele Atemzüge. Lauschen Sie den Tönen, singen Sie vor allem mit den Ohren.

5. Genießen Sie die wohltuenden Vibrationen, die durch die Schwingungen der Töne Ihren Körper durchströmen. 6. Singen Sie Songs im Radio oder auf CD aus Leib und Seele mit. Kopieren Sie sich Ihre Lieblingssongs auf CD für das Auto oder für zu Hause. 6. Suchen Sie Gleichgesinnte. Ein Verzeichnis von Chören finden Sie unter www.choere.de, Kurse zur Heilkraft des Singens unter www.heilsamessingen.de oder www.healingsongs.de.

Leider wurde das Singen schon in den 60er-Jahren aus dem Lehrplan der Erzieherinnen-Ausbildung gestrichen. Karl Adamek hat nicht zuletzt deshalb das Programm "Canto elementar" ins Leben gerufen, das bundesweit ehrenamtliche Singpaten in Kitas und Kindergärten entsendet. 170 Einrichtungen machen bereits mit, die Erfahrungen sind durchweg positiv. Das generationenverbindende Projekt wurde kürzlich mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.

Kinder lassen sich schnell zum Mitsingen animieren, Erwachsene tun sich oft schwerer. Beim Seminar in Hannover helfen die eingängigen Zeilen der "Meridian-Mantren" und die einfachen Tonfolgen, sich fallen zu lassen. "Die Texte haben den Aspekt einer Lebensberatung", sagt eine Teilnehmerin in der Pause. Sie spüre beim Singen "Entspannung bis in die Fußspitzen", das Seminar helfe ihr, besser mit ihrer Fibromyalgie klarzukommen, das sind chronische Muskel- und Gelenkschmerzen. Eine andere Teilnehmerin stimmt zu und bringt es auf die Formel: "Singen ist meine innere Hausapotheke."

Natürlich helfe Singen nicht gegen ernsthafte Krankheiten wie Krebs, sagt Karl Adamek, aber es könne den gesamten Organismus positiv stimulieren: "Singen ist ein Gesundheitserreger."

Singen soll auch gegen psychische Probleme helfen

Dass Singen gesund ist, klingt wie eine Binsenweisheit, aber es lässt sich wissenschaftlich nachweisen. Zusammen mit dem Bielefelder Soziologen Thomas Blank untersuchte Adamek 500 Fünfjährige. Sie fanden heraus: Kinder, die regelmäßig singen, sind deutlich gesünder und besser für die Schule geeignet als Gleichaltrige, die nicht singen.

89 Prozent der jungen Sänger und Sängerinnen erklärte das Gesundheitsamt für voll schultauglich. Bei den wenig singenden Kindern galt das nur für 44 Prozent. Für die übrigen 56 Prozent der Wenigsinger empfahlen die Schulärzte außerdem entwicklungsfördernde Maßnahmen. Singen macht fit für die Zukunft.

Und es kann helfen, mit psychischen Problemen klarzukommen. Oder, wie Yehudi Menuhin es formuliert hat: "Wenn einer aus seiner Seele singt, heilt er zugleich seine innere Welt." Das heilsame Singen wird seit Jahren erfolgreich bei Schmerzpatienten und Menschen mit psychosomatischen Störungen eingesetzt. Viele Krankenhäuser, etwa die Heiligenfeld-Kliniken in Bad Kissingen oder die Paracelsus-Klinik in München, haben Singkreise, und zwar nicht nur zur Freizeitgestaltung. Patienten berichten, dass sie beim Singen Gefühle der Verbundenheit und der Geborgenheit empfinden und dass die Schmerzen nachlassen. Viele werden fröhlicher, einige können nach dem Singen schneller als sonst einschlafen.

Heilungsmantren können in eine Art Trance versetzten

Beim Singkreis im "Shadil" geht es nach der Pause weiter mit "Allgemeinen Heilungsmantren", die Adamek selbst komponiert und getextet hat. Einfache Melodien, einprägsame Sätze, die einen beim Singen in eine Art Trance versetzen können: "Ja, hier ist mein Ja/ Ja, fühl, ich bin da" oder "Der Weg, und sei er noch so lang/ beginnt beim ersten Schritt/ Die Liebe, sei sie noch so zart/wächst, wenn wir gehen, mit."

Der Inhalt der Lieder ist nicht religiös, aber doch irgendwie spirituell. Dazu spielt Adamek auf der Gitarre oder auf der Sitar, eine Freundin begleitet auf der Querflöte. Zwischendurch hält er kurze Vorträge über die heilsame Kraft des Singens, während des Dozierens spielt er weiter Gitarre. Und immer wieder wird zur Auflockerung gestöhnt und getanzt.

Klingt alles schön und gut, aber wie soll man den heilenden Gesang im Alltag unterbringen? Was sagen die Kollegen, wenn man in Zukunft singend über den Flur hüpft? Wie reagieren die muffeligen Pendler in der S-Bahn, wenn man ein Meridian-Mantra anstimmt? "Singen Sie, wann und wo immer Sie wollen", rät Karl Adamek den Kursteilnehmern, "beim Gehen, beim Arbeiten, beim Autofahren". Skeptische Blicke. Echt? Und was sollen die Leute denken? "Die Leute halten Sie wahrscheinlich für bekloppt", sagt Adamek fröhlich, "aber das macht nichts. Die halten Sie auch sonst für bekloppt." Und jetzt alle zusammen: "Ja, hier ist mein Ja!"

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