Wohnen in Deutschland:Lebe wohl, Heimat

Landflucht

In vielen Regionen abseits der großen Städte schrumpft die Bevölkerung massiv.

(Foto: dpa)

In den Städten wird zu wenig gebaut, auf dem Land zu viel und das Falsche. Die Folgen sind fatal. Höchste Zeit, die Bagger umzuleiten.

Essay von René Hofmann

Das schale Gefühl kommt 30 Kilometer hinter der Autobahn-Ausfahrt, an einer roten Ampel, von der aus der Blick auf einen Fußballplatz fällt, an dem Erinnerungen aus der Jugend hängen: kratzende Trikots, ein zu harter Ball, größere, viel stärkere Gegner. Mehr als eine Niederlage gab es hier, aber schlimm war das nicht. Hat ja kaum einer mitbekommen. Damals lag der Platz nämlich weit draußen, jenseits des Ortes, einsam zwischen den Feldern. Heute dagegen ist das Spielfeld eingemauert: umklammert von der Umgehungsstraße, umstellt von Einfamilienhäusern, bedrängt von Lebensmittel- und Bekleidungs-Discountern. Es gibt hier jetzt vieles, was günstig ist. Und viele Parkplätze gibt es umsonst dazu.

Das schale Gefühl könnte hinter der Ampel schnell wieder verschwinden. Der Platz ist auf dem Weg zu den Eltern oft am Autofenster vorbeigezogen, ohne Emotionen auszulösen. Dieses Mal aber ist es anders. Vielleicht, weil im Radio Bruce Springsteen gerade in f-Moll gewechselt hat. "My hometown", dritte Strophe: "Now main street's whitewashed windows and vacant stores/Seems like there ain't nobody wants to come down here no more." Verlassene Geschäfte, aufgelassene Fabriken: Das Lied endet damit, dass ein Vater all das seinem Sohn bei einer Autofahrt durch seine Heimatstadt zeigt. Vielleicht liegt es daran, dass der eigene Sohn gerade auf der Rückbank eingeschlafen ist, auf jeden Fall bleibt das schale Gefühl dieses Mal. Und das ist zum Heulen.

Deutschland ist ein tolles Land. Es ist reich und schön und wunderbar. Mancherorts aber ist es auch bloß noch zum Verrücktwerden. Weil trotz des vielen Geldes ganz offensichtlich so vieles schiefläuft in der saftigen Landschaft. Der Mensch breitet sich immer weiter aus. Und schön ist das in den seltensten Fällen. In den meisten Fällen wird aus Grün einfach nur Grau.

Die boomenden Großstädte, gerade die in Bayern, erinnern an Bodybuilder, die eifrig Steroide geschluckt haben: Sie sind bis zum Platzen aufgepumpt. Und sie breiten sich aus bis ins Umland - in Form von Gewerbegebieten, Großlagern und raumgreifenden Neubaugebieten, wo Familien vor der Terrassentür wenigstens noch ein Fitzelchen Garten finden können. Speckgürtel wurden diese Regionen früher gern genannt. Beschaulichkeit schwang da mit - oder Bräsigkeit, je nach Intonation. Inzwischen trifft das beides nicht mehr. Das Fett schiebt sich in so vielen Lagen über den Gürtel, dass es nur noch hässlich sein kann.

In den nicht ganz so großen Städten sieht es ähnlich aus. Nur dass um die herum mehr Platz ist, weshalb die Tristesse nicht sofort ins Auge sticht. Am absurdesten aber ist, dass der Bauwahn auch dort grassiert, wo heute schon viele Häuser leer stehen und in wenigen Jahren ziemlich sicher viel weniger Menschen leben werden als heute: auf dem Land.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat diese Woche noch einmal betont: In Deutschland wird - statistisch betrachtet - weder zu wenig gebaut noch zu viel. Es wird an den falschen Stellen gebaut. Und es wird das Falsche gebaut.

In manchen Gegenden ist die Bevölkerung massiv geschrumpft

Die Zahlen, die das Institut zusammengetragen hat, sind erschreckend. Es hat die demografischen Trends ermittelt, die als gesichert gelten. Diesen hat es die Wohnungen gegenübergestellt, die zwischen 2011 und 2015 fertiggestellt wurden. Und das für ganz Deutschland, für jeden Landkreis und jede Stadt. Die Karte, die daraus entstanden ist, zeigt das ganze Dilemma auf einen Blick: An den Rändern ist der Baubedarf in Bayern fast flächendeckend "übererfüllt", wie die Datendeuter das nennen. Landkreis Neustadt an der Waldnaab: "Baubedarf zu 304 Prozent gedeckt." Landkreis Rhön-Grabfeld: "Baubedarf zu 400 Prozent gedeckt." Landkreis Bad Kissingen: "Baubedarf zu 586 Prozent gedeckt." Konkret heißt das: In Bad Kissingen entstehen fast sechsmal so viele Wohnungen wie auf Dauer nötig sein dürften. Die Experten sprechen von "Überbauung". Und die ist keineswegs nur ein bayerisches Phänomen. Landkreis Vorpommern-Greifswald: "Baubedarf zu 529 Prozent gedeckt." Rhein-Hunsrück-Kreis: "Baubedarf zu 952 Prozent gedeckt." Vielerorts wäre ein Mehr also gar nicht mehr nötig.

Was nötig wäre: Mehr kleinere Wohnungen, drei Zimmer oder weniger, weil die Zahl der Single-Haushalte steigt, die Menschen älter werden, große Anwesen im Alter zur Last werden und das Nebeneinander viel mehr Fläche frisst als ein wohlgeordnetes Miteinander. Das aber entsteht kaum. "Mit Schrecken", sehen die Immobilienexperten, "dass in ländlichen Regionen immer noch sehr viele Einfamilienhäuser gebaut werden." Der Traum vom eigenen Heim, den so viele träumen - für gar nicht so wenige Beobachter ist das inzwischen ein Schreckensszenario.

Das Institut der deutschen Wirtschaft ist keine unabhängige Instanz. Es wird von den Arbeitgeberverbänden und dem Bundesverband der Deutschen Industrie getragen. Sein Wirken zielt durchaus auch darauf, politische Debatten im Sinn der Unternehmen zu lenken, also beispielsweise darauf hinzuwirken, dass neue Wohnungen vor allem dort entstehen, wo viele Firmen dringend Arbeitskräfte suchen. Dass die Analyse aber mehr ist als Lobbyisten-Alarmismus, zeigt ein einfacher Realitätscheck: ein Blick auf die Homepage der Stadt Wunsiedel im Fichtelgebirge.

Fantasielose, von Bauträgern rein auf Gewinn maximierte Wohn-Zweckbauten

In der Gegend dürfte die Bevölkerung bis 2035 um mehr als 15 Prozent schrumpfen, das hat das Bayerische Landesamt für Statistik errechnet. Im Internet ist davon nichts zu merken. Dort heißt es: "Legen Sie Wert auf eine schöne, unverbaubare Aussicht und auf eine sonnige Südhanglage? Das alles und noch viel mehr können wir Ihnen bieten. In einem unserer Wohngebiete findet sich garantiert auch für Ihren Geschmack das richtige Grundstück. Schwarzenbachgrund, Holenbrunn-Ost und Bernstein-Nord - das sind sie, unsere neuen Wohngebiete. Jedes mit seinen eigenen, ganz speziellen Vorzügen, aber allen ist eines gemein: eine ruhige Südhanglage zu einem erstaunlich günstigen Preis."

Na dann los, lasst die Bagger rollen! Kostet ja so gut wie nichts! Die Diktion ist ein gutes Beispiel dafür, welche Wertschätzung der unbebaute Boden genießt. Fantasielose, von Bauträgern rein auf Gewinn maximierte Wohn-Zweckbauten: Was in den Städten in den Himmel wächst, ist oft ein Jammer. Was sich aber auf dem Land breit macht, ist wirklich eine Schande. Der Flächenfraß ist schon lange ein großes Thema. Vor 15 Jahren hat die erste rot-grüne Bundesregierung ein Ziel formuliert: Bis 2020 soll die Fläche, die täglich für neue Häuser oder Straßen geopfert wird, auf 30 Hektar sinken. Das Ziel gilt immer noch. Wirklich nah gekommen aber ist man ihm noch nicht. 2015 wurden jeden Tag 66 Hektar plattgemacht. Das sind fast hundert Fußballfelder.

Der Drang in die Breite hat verheerende Konsequenzen: "Angesichts der günstigen Finanzierungen werden im ländlichen Raum Neubauten gegenüber Altbauten bevorzugt. Damit entstehen neue Leerstände, da die Bevölkerung insgesamt im ländlichen Raum schrumpft, und vor allem veröden zunehmend die Dorfzentren. Durch die Zersiedelung wird die Infrastruktur nicht effizient genutzt, was die Kosten für die Kommunen weiter treibt", schreiben die Wohnraumvermesser vom Wirtschaftsinstitut.

Das trifft es, fängt aber beileibe nicht ein, wie es einem geht, der die Hauptstraße seines Heimatdorfes entlangläuft und erkennen muss, was dort in den vergangenen zwei Jahrzehnten alles verschwunden ist: der Metzger, das Farbengeschäft, ein Wirtshaus, der Friseur, die Post-Annahmestelle, die Volksbank-Filiale, der kleine Edeka-Laden, der Schuster, noch ein Wirtshaus, die Quelle-Agentur. Traurig stehen die leeren Geschäftsräume Spalier. Einen Bauern gibt es auch nicht mehr. Gewachsen ist nur die Tankstelle, was kein Zufall ist: Das Auto ist das eine, alles verbindende Element in dieser Welt.

Ein Phänomen aus einem kleinen Ort in einem ganz dünn besiedelten Gebiet? Von wegen. Die Szene spielt mitten drin in dieser Republik, in Bayern, in einem Postleitzahlengebiet, das mit 9 beginnt. Und in der Kleinstadt gleich nebenan zeigt sich in einem etwas größeren Rahmen ein ganz ähnliches Bild. Das Hallenbad: stillgelegt. Das Krankenhaus: mit größeren Kliniken fusioniert. Die Landmaschinenfabrik: geschlossen. Die meisten Gebäude, die nicht mehr gebraucht werden, bleiben auch hier einfach stehen. Abgerissen wurde die Furnierfabrik. Wo sie einst stand, wurde ein Einkaufszentrum hochgezogen. Aber auch das hielt sich letztlich nicht und wurde abgebrochen. An gleicher Stelle darf nun eine andere Supermarkt-Kette erneut ihr Glück versuchen. Dagegen wäre wenig zu sagen, stünden ein paar Hundert Meter entfernt in der historischen Altstadt nicht viele Geschäfte leer. Auf heimeligem Kopfsteinpflaster lässt sich dort an Schaufenstern vorbeiflanieren, in denen nur Staub liegt.

Auch die Kirche befindet sich hier auf einem vielsagenden Rückzug. Nicht nur, weil immer weniger kommen, nicht nur, weil es immer weniger Pfarrer gibt, sondern auch, weil die Unterhaltskosten für die Turnhallen-großen Betonbauten kaum mehr aufzubringen sind, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren gerne in die Provinz gestellt wurden, weil sie einen Hauch von Moderne dorthin brachten. In einem zu großen Heim aber fühlt sich selbst der Herrgott nicht wohl. Leer stehende Anwesen sind leicht zu erkennen. Aber nur wer weiß, wie viele Häuser zudem nur noch von einer Witwe oder einem Witwer bewohnt werden, der ahnt, um wie viel größer das Problem bald noch werden dürfte. Die steigende Zahl der Zuwanderer wird diesen Trend nicht brechen. Die Mehrheit von ihnen zieht es ebenfalls in die Städte.

Wer auf dem Land aufgewachsen ist und seinen Kindern heute die Spielplätze zeigen will, auf denen er einst tobte, der merkt schnell, dass dort jetzt kaum noch getobt wird. Weil es weniger Kinder gibt. Aber auch, weil die, die es noch gibt, ein eigenes Trampolin, eine eigene Rutsche und im Sommer ein eigenes Schwimmbädchen vor der Terrassentür im Neubaugebiet stehen haben. Der Rückzug in die Individualität - er lässt die öffentlichen Plätze verwaisen. Was aber nicht mehr genutzt wird, wird bald auch nicht mehr gepflegt. Wer sich einmal einen Spreißel an einer gesplitterten Wippe zugezogen hat, der weiß, wie weh das tun kann.

Es gibt durchaus Gegner des Immer-weiter-raus-Bauens

Dabei ist das Thema Heimat doch gerade auch in der Politik wieder schwer in Mode gekommen. Vor drei Jahren hat die CSU ein "Heimatministerium" eröffnet. CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet dachte im Wahlkampf über eine ähnliche Institution für Nordrhein-Westfalen nach; bleiben CDU und CSU im Herbst an der Macht, könnte es ein "Bundesheimatministerium" geben. Auch der österreichische Agrarminister war schon in Nürnberg und hat sich durch die bayerische Befindlichkeits-Behörde führen lassen. Aber ist die nicht vor allem ein Illusionstheater?

Bayerns Heimatminister Markus Söder hatte eine verwegene Idee: Er wollte den Gemeinden erlauben, an Autobahnen und an Bundesstraßen Gewerbegebiete auszuweisen, auch wenn dort heute noch kein einziges Haus steht. Erst nach massiver Kritik rückte die CSU von den Plänen ab, was zeigt: Es gibt durchaus Gegner des Immer-weiter-raus-Bauens. Sie können sich nur zu selten durchsetzen.

Neues Bauland auszuweisen, muss schwerer werden

Bis spätestens zum Jahr 2050 sollen innerhalb der Europäischen Union für den Menschen und seine Fortbewegungsmittel überhaupt keine zusätzlichen Flächen mehr versiegelt werden. Eigentlich eine eindeutige Vorgabe. Was aber beschloss der Deutsche Bundestag in diesem März, an einem Donnerstagabend, als schon nicht mehr viele Abgeordnete im Plenarsaal waren? Dass die Gemeinden bis Ende 2019 an ihren Rändern mit einem Fingerschnippen Flächen bis zu einem Hektar als Neubaugebiete ausweisen dürfen, ganz ohne eine Prüfung, wie verträglich das für die Umwelt ist. Ein fatales Signal.

Etwas zu bauen - das bedeutete hierzulande einmal: Etwas Bleibendes zu schaffen, etwas, das über die eigene Generation hinaus Bestand haben sollte. Dieses Bewusstsein hat sich gewandelt. Inzwischen sei "das selbstgenutzte Wohneigentum für viele ein Konsumgut", glaubt man beim Institut der deutschen Wirtschaft, weshalb auch der fallende Wert für Einzelhäuser auf dem Land nicht dazu führen werde, dass dort weniger davon entstehen.

Dieses Bewusstsein wieder zu wandeln, wird kaum gelingen. Einiges aber ließe sich schon tun. Neues Bauland auszuweisen, muss schwerer werden. Und die Entscheidung darüber sollte nicht nur bei den Gemeinden liegen, die untereinander in einem unheilvollem Wettbewerb stehen. Die Ortskerne bedürfen der Pflege. Und dort, wo der Leerstand problematisch ist, sollte gelten: Etwas Neues darf nur bauen, wer etwas Altes abreißt.

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