Zahnarztphobie:Die Angst vor dem Bohrer

Furcht vor dem Zahnarzt ist eine ernsthafte psychische Störung, an der bis zu vier Millionen Deutsche leiden. Nun wird nach Wegen gesucht, damit diese Patienten wieder in die Praxis kommen.

Robert Lücke

Der Geruch der Praxis, das Surren der Bohrer - 70 Prozent der Deutschen fürchten sich vor dem Zahnarzt. Gesellschaftlich ist das akzeptiert.

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Da kann man es schon mit der Angst bekommen.

(Foto: Foto: ddp)

,,Diese Angst kann sich auch der stärkste Mann und die härteste Frau leisten'', sagt Renate Deinzer, Klinische Psychologin an der Universität Düsseldorf. Es gibt jedoch Menschen, bei denen übersteigt diese Angst das normale Maß, ihnen verursacht schon der Gedanke, zum Zahnarzt zu gehen, Panik.

Dass es sich dabei um eine ernsthafte psychische Störung handelt, an der bis zu vier Millionen Deutsche leiden, ist erst seit etwa zehn Jahren bekannt. Nun suchen Zahnärzte und Psychologen nach Wegen, damit diese Patienten wieder in die Praxis kommen.

Heinrich S. leidet an Zahnbehandlungsphobie. Das letzte Mal war er vor 15 Jahren beim Zahnarzt, was man seinen Zähnen auch ansieht. Braun und gelb faulen sie vor sich hin.

Dabei hat er als Notar täglich mit Menschen zu tun. Er hat sich angewöhnt, den Mund beim Sprechen kaum zu öffnen oder er legt Finger auf die Lippen, wenn er etwas sagt.

Seine Angst begann, als er wegen eines abgebrochenen Eckzahns in Behandlung war. Sein Zahnarzt war verreist, er ging zur Vertretung. ,,Der hat alles falsch gemacht.

Zuwenig Betäubung, geredet hat er gar nicht, ist mit dem Bohrer ins Zahnfleisch abgerutscht, es blutete heftig. Ich musste viermal hin, weil ich immer noch Schmerzen hatte. Jedes Mal wurde die Angst größer. Am Ende bin ich im Treppenhaus umgedreht.''

,,Angst vor dem Zahnarzt kennt fast jeder. Aber ein Zahnbehandlungsphobiker würde keinen Fuß in eine Praxis setzen, auch nicht, wenn er starke Schmerzen hat'', sagt Gudrun Sartory, Psychologin an der Universität Wuppertal.

Zahnbehandlungsphobiker entwickeln Vermeidungsstrategien. Mancher geht nicht vor die Tür, weil er sich wegen seiner Zähne schämt.

,,Phobiker gab es schon immer, nur wussten früher weder Ärzte noch Betroffene, dass es sich bei der panischen Angst vor dem Zahnarzt nicht um eine dumme Überreaktion, sondern um eine Angsterkrankung handelt'', sagt Peter Jöhren von der Universität Witten-Herdecke, der über krankhafte Zahnarztangst forscht.

Jöhren hat sich auf schwierige Patienten spezialisiert. Mit Gudrun Sartory hat er seine Behandlung auf die Bedürfnisse der Phobiker abgestimmt.

Panikattacken bei Zahnarzt-Phobie ähneln denen bei Flug- oder Höhenangst: Stresshormone werden ausgeschüttet, die Hände sind feucht, der Puls ist beschleunigt, die Magensäureproduktion erhöht.

Phobiker versuchen, solche Situationen zu vermeiden. Ist die vermeintliche Bedrohung abgewendet, geht es wieder besser. ,,So rutscht der Phobiker in einen Teufelskreis'', sagt Psychologin Deinzer, die das Netzwerk Psychologie und Zahnmedizin (PsyDent) koordiniert.

,,Dabei hilft nur eines: zu erlernen, dass nichts Bedrohliches in der Zahnarztpraxis lauert.'' Phobien seien die am leichtesten zu behandelnde psychische Störung - wenn man sie behandelt.

Füllung unter Vollnarkose

Meist geht die Angst vor dem Zahnarzt auf unangenehme Erfahrungen zurück - Betäubungsspritzen, die schlecht gesetzt wurden, Füllungen schmerzten oder fielen heraus.

Manchmal entstehen Phobien auch nach negativen Erlebnissen anderer, etwa von Familienmitgliedern. ,,Wie man die Angst vor dem Zahnarztbesuch lernen kann, kann man sie auch wieder verlernen'', sagt Deinzer.

Die Angst vor dem Bohrer

Nicht alle Zahnärzte, die sich auf Phobiker spezialisiert haben, setzen auf Ursachenforschung und Psychotherapie.

Manche stellen nur Duftkerzen in der Praxis auf, um den typischen Geruch zu vertreiben, andere versetzen die Patienten in Hypnose oder verwenden Geräte zur Betäubung, die nicht wie eine Spritze aussehen.

Radikaler geht der Münchner Michael Leu von der Gentle Dental Office Group vor. Er setzt auf Behandlung unter Vollnarkose. Als Grund gibt er an, dass die Phobiker in seiner Praxis den Mund nicht richtig schließen können, weil Ober-, Unterkiefer und Kiefergelenk nicht miteinander harmonieren, und das könne man nur unter Vollnarkose beheben.

Im Übrigen lehne er die zeitraubende ,,Klein-klein-Behandlung'' ab, das sei den Patienten nicht zuzumuten. Leu saniert in maximal drei Sitzungen das komplette Gebiss - die Patienten seien danach von ihrer Phobie befreit.

Leus Methode ist wissenschaftlich umstritten, aber wirtschaftlich erfolgreich. Fast 5000 Patienten habe er erfolgreich behandelt, Leus Team operiert europaweit an 30 Standorten.

Psychologin Deinzer ist skeptisch: ,,Nach dem Aufwachen kommt die Angst zurück'', sagt sie. ,,Mit einer Behandlung in Vollnarkose ist das Problem ja nur akut gelöst, nach einiger Zeit werden die Zähne aber wieder schlechter, denn viele Patienten kennen keinen normalen Umgang mit diesem Bereich ihres Körpers und dessen Pflege.''

In Untersuchungen ist nachgewiesen, dass die Vollnarkose der Verhaltenstherapie unterlegen ist. Bei 70 Prozent der Phobiker hilft die Psychotherapie, bei weniger als einen Drittel ist die Vollnarkose überhaupt nötig, sagt auch Peter Jöhren.

,,Phobikern ist die Irrationalität ihrer Angst ja bewusst'', sagt Deinzer, ,,aber sie stellen sich ihr nicht konfrontativ.''

"Krank vor Angst"

Um dies zu lernen, hat Peter Jöhren mit Gudrun Sartory einen Fragebogen entwickelt, den Patienten angstfrei zu Hause beantworten können - im Internet.

So tat das auch Jöhrens spätere Patientin Suska W. Sie musste ihre Empfindungen in einer Skala von ,,entspannt'' bis ,,krank vor Angst'' einstufen, wenn sie sich typischen Situationen beim Zahnarzt vorstellte - der Geruch, das Geräusch des Bohrers, die Mitteilung, dass ein Zahn entfernt werden muss. W. machte ihre Kreuze bei ,,krank vor Angst''.

Als Antwort bekam sie eine Mail von Jöhren mit der Diagnose Phobie. ,,Zuerst wollte ich das nicht wahrhaben, das hört sich an, als wäre man irre'', sagt W. Angenehm sei aber gewesen, dass die Patientin wusste, dass sie nicht die Einzige ist, ,,die so was hat''.

Nach Jahren ließ sie sich einen Termin geben. Eine Psychotherapeutin bestellte die Patientin zunächst fünfmal in die Zahnarztpraxis, ohne dass sie behandelt wurde. Mit Entspannungsübungen gewöhnte sie sie an die Behandlungsräume.

Dann zeigte sie ihr nach und nach die Instrumente und versuchte, sie positiv einzustimmen.

Formelhaft sagte sich die Patientin vor: Es gehen jeden Tag Tausende Menschen zum Zahnarzt, ohne dass etwas passiert.

Die Angst vor dem Bohrer

Mehrere Monate kam W. in die Klinik, ohne den Mund für Bohrer und Spritze öffnen zu müssen. Nicht bei allen Patienten dauert es so lange, in 70 Prozent der Fälle genüge eine zwei- bis dreistündige Sitzung, so Jöhren.

Vielen Patienten verabreicht er vor der Behandlung ein leichtes Beruhigungsmittel, eine Vollnarkose aber nur in Ausnahmen. Auch W. kam ohne aus. Beruhigungsmittel, Lokalanästhesie und Musik über Kopfhörer reichten, Jöhren konnte mit der Gebisssanierung beginnen. Nach drei Monaten war es überstanden, die Angst beherrschbar.

Der Mensch hinter dem Zahn

So viel Glück haben nicht alle Phobiker. Schwierig wird es bei Kindern. ,,Viele Kinder haben einen Grund für ihre Ängste, aber wir kennen ihn nicht'', sagt Jutta Margraf-Stiksrad von der Universität Marburg.

Diesen Kindern müsse man Mut machen, sie beruhigen und ihnen vermitteln: Du kannst die Situation beeinflussen. Nicht jede Hilfe werde von Kindern als solche verstanden. ,,Was nützt es, einem Fünfjährigen den Bohrer in die Hand zu drücken und zu sagen: Der tut nichts?'', sagt Margraf-Stiksrad.

Häufig helfe es, wenn kleine Kinder während der Behandlung auf dem Schoß der Mutter säßen und ihnen vorgelesen werde. Mit Kindern im Grundschulalter müsse der Arzt reden - nicht nur über den Umweg der Eltern. ,,Der Arzt muss ihnen zeigen: Mir kannst du vertrauen. Wenn er sagt, ich zähle jetzt bis zehn und höre dann auf zu bohren, darf er auch wirklich nur bis zehn bohren'', sagt Margraf-Stiksrad.

Ihre Erkenntnisse werden an der Marburger Universitäts-Zahnklinik bereits umgesetzt. Doch am Austausch zwischen Psychologen und Ärzten hapert es in Deutschland noch. ,,In den USA, Skandinavien und Holland ist man weiter'', sagt Margraf-Stiksrad. Doch auch in Deutschland tut sich was. Gerade wurden Psychologie und Psychosomatik in die Ausbildung für angehende Zahnärzte aufgenommen.

Für praktizierende Ärzte entwickelte die DGZMK Fortbildungen und Leitfäden für den Umgang mit den schwierigen Patienten. ,,Man muss sich nicht nur den Zähnen, sondern auch den daran hängenden Patienten widmen'', sagt Jöhren. Heinrich S. hat bislang noch nicht den Mut gefunden, jemanden an seine Zähne zu lassen. Aber zumindest hat er schon Kontakt zu einer Praxis aufgenommen, die sich auf Patienten wie ihn spezialisiert hat.

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