Yoga-Festival im Loire-Tal:Schwerelos mit weißem Tantra

"Ihr habt keine Ahnung, wie high wir sind" - im Loire-Tal fließt kosmische Energie, bis 1500 Yogis in innerer Balance sind - ein Erfühlungsbericht.

Stephan Loichinger

Das besondere Moment des Yoga-Festivals im französischen Mur-en-Sologne begegnet einem schon am Parkplatz: in Person eines Fremden, der grüßt, als sei er ein guter Bekannter. Es wird in den folgenden acht Tagen wieder passieren. Die Menschen auf dem Yoga-Festival im Loire-Tal scheinen von einer im Alltag kaum anzutreffenden Offenheit, jeder hier ist potenziell interessant.

Angst, aus dem Zelt könnte Sonnenbrille, Kamera oder Geld geklaut werden, muss keiner haben. Nirgends auf dem Anwesen dieses ehemaligen Landschlosses nahe Blois läuft ein Fernseher oder tropft aus einem Radio Popmusik. Die Kartoffelsuppe, Bananen und Orangen morgens um acht und der Eintopf aus Mungbohnen und Reis, Salat und rote Beete nachmittags um halb fünf sind die einzigen zwei Mahlzeiten am Tag.

Niemand unter den rund 1500 Menschen raucht, höchstens ein paar wenige in den Zelten am hinteren See, durch Eichenwald vom Festivalgelände abgeschirmt. Vor dem Château und im großen Zelt ist Stroh ausgelegt, weil man mit seiner Yoga-Matte nicht eine Woche lang im Staub sitzen soll. Es riecht nach diesem Stroh, Eichenlaub und nach dem Yogi-Tee, der abends ausgeschenkt wird.

Yogis tun nichts lieber als darüber zu reden, wie sie sich fühlen. Niemand hier spricht beim Essen über Fußball oder das neue Album von Coldplay. Helga, Yoga-Lehrerin aus Hamburg um die 50, sagt beim Warten auf die freiwilligen Essensausträger, wie man den Umgang mit seinen Ängsten lernen muss. Und wie es im Leben immer darum geht, sich über seine Ziele klar zu werden, "und das eigentlich jeden Tag".

Ali aus Rüsselsheim, Mitte 30 und ebenfalls Yoga-Lehrer, sinniert über Annäherung in Liebesbeziehungen. "Wenn man vom Partner erwartet, dass er einen glücklich macht, ist man schon gescheitert. Er sollte einem eher den Raum geben, den man braucht, um sich weiterzuentwickeln."

Sich weiterentwickeln. Knapper lässt sich kaum ausdrücken, warum rund 1500 Menschen aus der ganzen Welt auch in dieser letzten Juliwoche wieder zum europaweit einzigartigen Kundalini-Yoga-Festival nach Frankreich gereist sind. Die Fleißigsten unter ihnen stehen morgens um vier auf, um mit Yoga um halb fünf den Tag zu begrüßen. Bis zum Abend atmen und strecken sie sich durch weitere vier Yoga-Sets und Meditationen. Bei dem Programm kommt man bald mit fünf Stunden Schlaf locker aus.

Idylle, weltabgewandt

Sich weiterentwickeln. Der mitgebrachte Stress von Anreise und Alltag löst sich in der quasi weltabgewandten Idylle des Yoga-Festivals. Der Kopf wird mit zunehmender Festivaldauer leichter, leichter und licht. Der übliche Fluss von Gedanken versiegt, es schaukelt sich in tiefer Zufriedenheit. Doch die Entwicklung geht darüber hinaus.

Das liegt vor allem am Weißen Tantra, drei Tage lang. Außer im Loire-Tal gibt es das sonst nur bei den Yoga-Festivals zur Sommer- und Wintersonnenwende in New Mexiko und Florida. Weißes Tantra - unter diesem Namen hat Yogi Bhajan eine spezielle Form von Meditation erdacht.

Bis Ende der 60er Jahre wurde Kundalini-Yoga, wozu das Weiße Tantra gehört, nur in geschlossenen Zirkeln in Indien unterrichtet. Yogi Bhajan war der Mann, der Kundalini-Yoga in den Westen brachte, in die USA zunächst und von dort mit Hilfe seiner Schüler in den Rest der Welt. Was Yogi Bhajan gelehrt hat, scheint für seine Anhänger unanfechtbar. Vor ihren Yoga-Sets geben die Gurus gern Einblick in eine persönliche Begegnung mit dem Meister.

Kosmische Energie aus dem 16. Jahrhundert

Seit Yogi Bhajans Tod 2004 dürfen nur ausgewählt Frauen, so genannte Facilitators, das Weiße Tantra anleiten. Sie gelten als Bindeglied zwischen den ganz in Weiß gekleideten Meditierenden und Yogi Bhajan. Der seinerseits soll mit dem Patron des Kundalini-Yoga, Guru Ram Das, der im 16. Jahrhundert lebte, in Verbindung stehen. Über diese Kette, so heißt es, wird die kosmische Energie geleitet. Das mag man glauben oder nicht.

Yogi Bhajan ist in Mur-en-Sologne jedenfalls in Bild und Ton präsent. Sein Antlitz flimmert über Monitore im großen Tantra-Zelt, er sieht ernst drein. Seine Anleitungen zum Weißen Tantra wurden für die Zeit nach seinem Tod aufgezeichnet.

Facilitator Sat Simran Kaur sagt: "Yogi Bhajan hat 126 Übungsreihen des Weißen Tantra entwickelt. Manche kommen einem leichter vor, andere schwerer. Aber sie wirken alle gleich stark und haben alle dasselbe Ziel: Die Menschen in Balance zu setzen." Diese Balance versuchen die Meditierenden dadurch zu erreichen, dass sie sich in langen Reihen, aufgeteilt nach Männern und Frauen, gegenübersitzen, sich tief in die Augen schauen und nicht selten sich berühren.

Mal verschränken sie ihre Finger mit denen ihres Gegenübers und heben die Hände über den Kopf, mal legen sie ihre Hände auf der Höhe ihres Halses übereinander. Mal schweigen sie, mal singen sie laut ein Mantra in der indischen Sprache Gurmukhi, das mit "Ek Ong Kar, Sat Nam, Karta Purkh" beginnt und nichts anderes ist als ein Lobpreis des Schöpfers. Sie tun das 15 Minuten, 31 Minuten oder 62 Minuten lang, diese Zeiten sind Standard beim Weißen Tantra.

Singen gegen den Schmerz

Der Wohlklang des gemeinsamen Gesangs aus tausend Kehlen kann über den Schmerz in den Schultern, Oberarmen und den Beinen im Schneidersitz hinweg helfen. Wenn man den Schmerz zulässt und sich nicht auf ihn konzentriert, kann man ihn aushalten. Er wird nicht weniger, wenn man zwischendurch kurz die Arme absetzt.

Man kommt sich nahe in diesen Meditationen - vor allem sich selbst. Manche denken an den Tod des Vaters, eine verflossene Liebe, die Freude über das Neugeborene. Manche weinen, manche lachen während der Übungen, manche strahlen danach. Wie man ohnehin finden kann, dass die Augen der Menschen bei diesem Festival der kollektiven Selbstreinigung seltsam leuchten.

Wie fühlt man sich nach drei Tagen? Vielleicht wie ein Bergsteiger, der am Gipfel anlangt. Vielleicht wie nach einem Tag am Strand in der Sonne mit viel Zeit für das dicke Buch. Als würde man auf Ecstasy eine ganze Nacht lang durchtanzen. Wie ein Jogger, der nach Kilometern den Herzschlag im Kopf spürt.

Die Reinigung des Unbewussten

Nur hält dieses Gefühl der Schwerelosigkeit nach dem Weißen Tantra länger, es hält tage-, ja wochenlang an. "Ihr habt keine Ahnung, wie high wir sind", sagt Satya Singh, der Programmverantwortliche des Festivals, am Ende der Woche. Nach dem Festival erscheint die Alltagswelt wie in Watte gepackt. Oder ist man selbst in Watte gepackt?

Am letzten Festivaltag leitet Guru Tarn Taran Singh eine Übung an, durch die "das Unbewusste von den Spuren, die 8,4 Millionen Inkarnationen hinterlassen haben", gereinigt werde. Er heißt die Yogis, ihre Zeigefinger und Daumen in rascher Folge aneinander zu stoßen und währenddessen Lieder zu pfeifen und Tierstimmen zu imitieren. Von außen betrachtet wirkt das mehr als merkwürdig, abgedreht vielleicht oder, schlimmer, peinlich, uncool.

Doch wahrscheinlich erfordern ungewöhnliche Ziele wie das, das Unbewusste zu reinigen, ungewöhnliche Mittel. Sie scheinen zu wirken: Am Ende der Yoga-Woche im Loire-Tal strahlen die Menschen. Es geht uns gut.

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