Würde die Schule doch erst um 9 Uhr beginnen:Wie eine Stunde die Welt verändern könnte

Jeden Morgen quälen sich Abertausende Kinder in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett, um zur Schule zu gehen. Die meisten von ihnen sind schlecht gelaunt, fangen Streit mit den Eltern an. Dabei könnte alles anders sein, wenn die Schule nur eine Stunde später beginnen würde - sagt eine Studie.

Joachim Käppner

Schlafentzug

Chaos, Stress, Streit und das um 7 Uhr morgens - so beginnt meist der Tag für Eltern, die schulpflichtige Kinder haben.

Der Ehemann und Vater glaubte von sich, er sei ein übler Morgenmuffel. Wer immer das zweifelhafte Glück hatte, ihm in der ersten Stunde des Tages zu begegnen, hat nichts Gegenteiliges berichtet. Er selbst sieht sich daher als Mann, mit dem nicht zu spaßen ist, wenn der Tag noch jung ist; als einen, der das Nötige mit Entschiedenheit bestimmt und sich nicht auf Debatten einlassen wird, ob es wirklich schon so spät sei und dass eine Minute zum Zähneputzen auch reiche. Nicht mit ihm. So dachte er, als er noch keine Kinder hatte und bei Freunden mit solchen einen apokalyptischen Morgen miterlebte.

Wie kommt es dann, dass er sich heute gegen halb sieben in der Frühe mit einer Vorsicht durch sein Heim bewegt, als durchquere er ein Minenfeld? Und wie kann es sein, dass es trotzdem beinahe minütlich zu Detonationen kommt?

Das kommt daher und kann deshalb sein, weil er mit Frau und Kindern, sagen wir, interagiert, und die spielen in der Champions League der Morgenmuffel. Es gibt Tage, an denen weckt er seine Kinder, bringt ihnen sogar die Müsli-Crunchies ans Bett. Und sie, sonst lebendig und lebhaft, glotzen ihn ausdruckslos an oder drehen sich grunzend zur Wand. Das sind die besseren Tage. An allen anderen geht ein Schwall von Verwünschungen und Vorwürfen über ihn nieder: Will nicht aufstehen.

Nein, morgens um sieben ist die Welt nicht in Ordnung. Es ist früh, viel zu früh. Konservative neigen dazu, solche Klagen über den typischen Schreckensmorgen mit Kindern als typisches Gewäsch von Weicheiern abzutun, die zu viele verständnishubernde Erziehungsberater gelesen haben. Chris C. in Berlin (die Angaben zu den einzelnen Familien wurden im Interesse aller Beteiligten leicht verfremdet), Chris C. in Berlin also, ein guter Freund des Ehemanns und Vaters, war schon in jungen Jahren old at heart. Er trat der Schülerunion bei, wurde Reserveoffizier und hielt als Jurastudent im Audimax bei einer Kundgebung gegen die Nachrüstung eine Rede für die Nachrüstung; er hielt sich erstaunlich lange am Sprecherpult. Er ist ein Mann mit Courage und Prinzipien. Deshalb fragte die Nachbarin seinen älteren Sohn eines Tages vor der Gartentür, was für schreckliche Schreie denn morgens aus dem Hause zu hören seien. Das Kind antwortete gelassen: Das ist nur Papa, er ruft uns zum Frühstück.

Er ruft, als rufe er zum Jüngsten Gericht, und nicht anders kommt es seinen drei Kindern auch vor. Die Donnerstimme reißt sie aus den Federn, sie duldet keinen Widerspruch, keine Ausnahmen. Das gemeinsame Frühstück ist ein Ritual, das die Wärme und Gemeinsamkeit des Familienverbandes betont und mit Leben füllt. So steht es ungefähr in den konservativen Erziehungsratgebern, vom zahlreich vorhandenen Matthias-Sammer-Typ des Jugendpädagogen verfasst. Ihnen zufolge war in einem vorsichtshalber nicht näher definierten Früher alles besser. Die Jugend lernte noch zu spuren, pennte und poofte nicht überlang und hatte Ritualen wie dem gemeinsamen Frühstück zu folgen, festen Vereinbarungen, die Sinn, Struktur und Respekt in die haltlosen, unfertigen kleinen Hirne brachten.

Morgendliche Kreisch-Aufführungen

C. hat weder die Stahlhelm-Didaktiker gelesen noch die "Lasset die Kindlein nur gewähren"-Gurus der Gegenseite. Er will einfach mit der Familie frühstücken, weil das in seiner Kindheit auch so war. Allerdings gesteht er offen, der erwünschte Effekt stelle sich nur partiell ein. Zwar ist es ihm gelungen, die Kinder tagtäglich kurz nach sieben in der Küche zu versammeln. Dort hocken sie nun, hohläugig, stumm. Das heißt, eines der Kinder sagt dann doch noch etwas: "Schmatz nicht so eklig." Es sucht und findet Streit mit den Geschwistern. Die zankende und Ungerechtigkeiten aller Art lauthals beklagende Schar anschließend Richtung Schule zu expedieren, mutet an wie eine dieser Kreisch-Aufführungen an der Komischen Oper.

Schlafentzug

So könnte der Morgen in Familien mit schulpflichtigen Kindern aussehen. Wenn, ja wenn, die Schule eine Stunde später beginnen würde.

Kinder sind morgens müde, ihnen fehlt Schlaf. Sie müssen vor der Zeit aufstehen, erst recht auf dem Land oder in den Großstädten, wenn die Wege zur Schule weit sind. Punkt acht Uhr ist Präsenzpflicht, mancherorts haben sich die unterbeschäftigten Kultusbeamten nullte Stunden ausgedacht, um das Feuerchen der morgendlichen Aufstehhölle noch ein wenig anzuheizen. Dabei bräuchten wir nicht eine Stunde weniger. Wir brauchen eine mehr. Aber sie geben uns die Stunde nicht.

Kein Wunder, dass zwanghafte Systeme ihre Bürger möglichst früh zur Pflicht rufen. In der DDR stand man gern um fünf auf, ohne dass es dem Land erkennbar geholfen hätte. Und schon 1930 fragte Kurt Tucholsky in der Weltbühne: "Warum müssen eigentlich fast alle Leute, die in einer Anstalt untergebracht sind, früh aufstehen? Warum werden sie so früh geweckt?" Er gab selbst die Antwort: "Gesund ist es deshalb nicht, weil kein Mensch mehr mit den Hühnern zu Bett geht." Er nannte es das "Stigma aller Unterdrückten: früh aufstehen zu müssen".

Denken wir uns die Familie als Anstalt und die Kinder als Unterdrückte - sie denken morgens um halb sieben ja dasselbe -, bleibt die Frage: ja, warum? Experten, Pädagogen, Schlafforscher sind ihr nachgegangen. Das Ergebnis: Es gibt kein Darum. Sinn hat es nicht.

Sogar Günther Oettinger, der als CDU-Ministerpräsident Baden-Württembergs in mancher Hinsicht nicht immer ausgeschlafen wirkte, mahnte in seiner Amtszeit, man solle die Schule doch schlicht später anfangen lassen, so gegen neun wie vielerorts in der Arbeitswelt. Eine Stunde mehr, nur eine einzige Stunde. Aber sie geben uns die Stunde nicht.

Deshalb muss der Ehemann und Vater um 20 nach sechs aufstehen, jedenfalls diese Woche. Hau ab, schreit seine jüngere Tochter, Grundschule. Der ältere Sohn, Unterstufe Gymnasium, schlurft an ihm vorüber, als sei er Hauptdarsteller in "Die Nacht der lebenden Toten". Der Kleinste motzt unbestimmt.

Nichts Dümmeres kann der Familienvorstand, als welchen sich der Ehemann und Vater unterbewusst als Folge fehlgeleiteter und nie aufgearbeiteter Rollenbilder begreift, also nichts Dümmeres kann er in dieser Phase tun, als sich in Debatten zu verstricken oder um Verständnis zu werben. Verständnis wird er nicht finden, und Debatten kosten wertvolle Zeit.

Verliert er sie, wird die Tochter die Kindergruppe verpassen, die gemeinsam zur Schule geht; so war es vorgestern, und zwar ohne jede Not, wie die Ehefrau und Mutter nicht müde wird, ihrem Gatten vorzuhalten, was hätte alles passieren können, nur weil du wieder . . .

"Gebt den Leuten mehr Schlaf"

Es ist ja wahr, die Stahlgewitter des Morgens werden vor allem von den Frauen ertragen. Nur politisch sehr korrekte Männer und solche, die vor den Vorwürfen ihrer Frauen einknickten und sich seither fragen, ob ihrem Vater das auch passiert wäre, sind bereit, diese Aufgabe zu teilen oder gar ganz zu übernehmen. Tun sie dies aber, droht zu ihrer Bestürzung eine neue Kampflinie. Die Hausfrau und Mutter wird, sofern sie nicht der sehr, sehr großherzige Typ Frau ist, sein Tun mit dem ihren vergleichen. Das Ergebnis ist nach aller Lebenserfahrung das, was sie schon vorher gewusst hat, nun aber nicht zu dulden bereit ist.

Wie kann dieser Mann Abteilungsleiter sein, daheim aber unfähig, einen Wollpulli passender Größe zu finden, obwohl sie ihn abends eigens herausgelegt hatte? Ist es zu fassen, fragt sie ihre Freundin beim Frühsport - den er ihr durch das morgendliche Versorgen der Kindlein ermöglicht hat, aber das spielt in ihren Erwägungen eine untergeordnete Rolle -, ist es denn möglich, dass er der Kleinen zwei Wasserflaschen mitgegeben hat und dem Großen dafür zwei Brotdosen? Letzte Woche hat er es zwar richtig aufgeteilt, aber die Brote zielsicher mit dieser Fenchelsalami belegt, die bei unseren Kindern schon immer Brechreiz ausgelöst hat, kann man das glauben? Und wie ist es zu erklären, dass der Jüngste dreimal hintereinander, dreimal, ich sage es dir, ohne Brille zur Schule ging, die Hausaufgaben an der Tafel nicht sah und einen Tadel bekam?

Das alles ist möglich, weil der Mensch nicht dafür gemacht ist, früh aufzustehen. "Gebt den Leuten mehr Schlaf - und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind", um noch einmal Tucholsky anzuführen, den Klugen.

Die Kinder, so lehrt es der Schlafmediziner Jürgen Zulley von der Universität Regensburg, werden gezwungen, gegen ihren natürlichen Biorhythmus zu handeln. Der Biorhythmus will nämlich nicht, dass um 6:30 das böse Licht angeht, der Wecker schrillt, der Vater mit falscher Freundlichkeit "Guten Morgen, liebe Sorgen" trällert, vom falschen Ton ganz abgesehen. Der Biorhythmus sagt dem Kind: Der hat kein Recht, das mit dir zu tun, nur weil er groß ist. Es ist unfair. Krieche hinein in deine Decken. Schlaf, Kindlein, schlaf weiter, säuselt der Biorhythmus.

Das alles wäre ganz anders, nämlich weit besser für alle Beteiligten, so sagen viele Wissenschaftler, wenn die Kinder morgens einfach eine Stunde mehr Schlaf hätten. Eine Stunde, mehr verlangt doch niemand, Unterricht ab neun, das Abendland würde nicht untergehen, der Bildungsstandort in den Rankings aufsteigen. Aber sie geben uns die Stunde nicht.

Die Ehefrauen und Mütter, um auf sie zurückzukommen, neigen in der Früh dazu, alle Erfahrungen der Motivation und Fähigkeitsförderung sausen zu lassen. Jedenfalls soweit es den aus ihrer Sicht planlos durch den jungen Morgen stolpernden Gatten betrifft. Es wäre gescheiter, würden sie die Ernsthaftigkeit seines Versuchs anerkennen und vielleicht, Männer sind da wie Kinder, gar rühmen und preisen. Das wäre eine Basis, auf der man kleine Abweichungen vom Erforderlichen ansprechen und gemeinsam Lösungen definieren kann.

Stattdessen kann sie, sonst von Charme und großem Herzen, der Versuchung, selbst bei strenger Aufgabenteilung zu intervenieren, schwer widerstehen. Das ist der Fluch der frühen Stunde. Die Gleichzeitigkeit des Geschehens und der Handgriffe provoziert auch beim wohlmeinenden Manne Fehlleistungen, das Stakkato ihrer Kritteleien erst recht. Der Kleine ist ja immer noch im Bett, die Brotzeit muss noch her, essen sollten sie morgens schon was, wieso kaut sie jetzt an Gummibärchen, und wo sind die Schuhe, zum Henker? So reden die Frauen. Zieh ihm doch die Regenjacke an, bitte. Ist das dein Ernst, ihn mit kurzen Hosen rauszuschicken? Und schau mal, hier ist der Schlüssel, er hat ihn also nicht dabei.

Der Ehemann und Vater, er war morgens wieder an der Reihe, hörte kürzlich, wie die Kleine ans Bett der Mutter trat und sprach: "Hähä, guck mal, Mama, was er mir wieder gegeben hat. Die Ärmel gehen bis zum Boden." Gut, es war das Hemd des großen Bruders, aber bin ich hier der Fahrschüler mit dem Besserwisser-Motzki nebendran oder was? So denkt der Ehemann und Vater, und ist er töricht genug, nicht nur so zu denken, sondern auch so zu sprechen, ist die Debatte lebhaft und die Kindergruppe schon weg, weil die Kleine noch in der Tür steht und fasziniert zuhört.

"Auf die Bäume, ihr Affen, der Wald wird gefegt."

In Spätherbst und Winter verschärft sich die Morgenlage, und zwar potenzieren sich die Konflikte mit der Anzahl der Kleidungsstücke, die zu tragen, das heißt erst einmal zu finden sind. Bei Familie A. im bergischen Raum ist High Noon schon gegen 7:35. Die größere Tochter sollte lange schon Richtung Schule unterwegs sein, jenem definitiv uncoolen und endverstrahlten Ort, zu dessen Besuch die Eltern sie weiterhin zwingen. Nur durch zur Gänze unpädagogische Drohungen, in denen es um erhebliche Nutzungseinschränkungen für iPod und PC geht, lässt sie sich überhaupt zum Aufstehen bewegen. Und wenn sie schon geht, dann nur mit den grünen Handschuhen, und Mama, hast du die jetzt schon wieder in der Wäsche? Außenstehende müssen befürchten, die Familienmitglieder stünden kurz vor einem Schusswechsel im Treppenhaus, bis das Kind grußlos aus der Tür stürzt. Es wird dennoch zu spät kommen, wieder mal, wie die Klassenlehrerin beim nächsten Mal spitz anmerken wird; Sie wissen schon, dass die Jugendlichen ausgeruht in den Unterricht gehen sollten und nicht immer so aufgelöst?

Und das Mädchen kann gar nichts dafür. In der Pubertät, so lehren die Chronologen, schlägt die innere Uhr noch später als bei kleineren Kindern.

Morgenstund hat Blei im Schlund, das hat die zu Kalauern stets aufgelegte Grundschullehrerin des nunmehrigen Ehemanns und Vaters schon gesagt, wenn sie der müden Truppe ansichtig wurde, die da als 3c um acht Uhr vor ihr hockte. Sein eigener Vater pflegte ihn mit ähnlichen Sprüchen roh aus dem Tiefschlaf zu reißen. Etwa: "Auf die Bäume, ihr Affen, der Wald wird gefegt." Es war nicht leicht, ihn in diesem Moment zu lieben.

Damals wie heute galt das Prinzip, das Kind habe sich nach den pragmatischen Erfordernissen der Schule und der Arbeitswelt zu richten, nicht die Schule nach dem Kind. Gierig liest der Ehemann und Vater Studien aus den USA, denen zufolge dort der Unterricht mancherorts später beginnt, was zu einem jähen Ansteigen der schulischen Leistungen geführt habe. Natürlich gibt es in der Wissenschaft die üblichen Wichtigtuer und Nörgler, die das Gegenteil behaupten; das denkt jedenfalls der Ehemann und Vater. Aber die haben wahrscheinlich keine Kinder, und wenn doch, möchte man da nicht Kind sein.

Manchmal stellt er sich vor, man würde frühes Aufstehen in Deutschland nicht wie eine kostbare Errungenschaft zur Disziplinierung der Low Performer betrachten, sondern als pain in the ass, so, wie es ist. Er würde morgens ausgeschlafen erwachen, mit der Gattin eine Weile Zeitung lesen, den Frühstückstisch für alle decken und dann irgendwann ins Kinderzimmer gehen. Draußen wäre es nicht mehr stockdunkel. Es gäbe keine Hast. Mit zarter Hand würde er den Kleinen wecken. Zwei blicklose Augen starrten ihn an, und aus der Tiefe der Decken krächzte das verpennte Kind: Hau ab.

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