Willkommenskultur für Flüchtlinge:Was hinter der Hilfsbereitschaft der Deutschen steckt

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Ankommenden Flüchtlingen werden am Hauptbahnhof in Dortmund Brote gereicht.

(Foto: AFP)

Bewegende Szenen spielen sich derzeit in Deutschland ab: Flüchtlinge werden mit Applaus begrüßt, Bürger bringen Geschenke, viele wollen spontan etwas tun. 18 Prozent der Deutschen sagten in einer aktuellen Umfrage, sie hätten schon etwas unternommen, um Flüchtlingen zu helfen. 23 Prozent gaben an, sie hätten das konkret vor. Die internationale Presse ist begeistert: Schlagzeilen über fremdenfeindliche Übergriffe sind verschwunden, plötzlich nimmt die Welt ein anderes Deutschland wahr: Ein Land mit Willkommenskultur, das Flüchtlinge mit offenen Armen empfängt. Migrationssoziologe Thomas Faist erklärt, warum plötzliche alle mithelfen wollen - und warum die Hilfsbereitschaft nur ein Anfang ist.

Von Anna Fischhaber

SZ: Bekannte, die sich nie engagiert haben, sortieren plötzlich in Flüchtlingsunterkünften Klamotten oder verteilen Deutschbücher. Sind Sie von der neuen Hilfsbereitschaft der Deutschen überrascht, Herr Faist?

Thomas Faist: Ganz neu ist so eine spontane Hilfsbereitschaft in Deutschland nicht. Ich denke da an den Tsunami 2004 oder das Elbehochwasser 2013. Neu ist sie im Zusammenhang mit Flüchtlingen. Und das Ausmaß, das hat mich überrascht. Interessant ist, dass plötzlich Menschen helfen, die vorher nie aktiv geworden sind. Eine bestimmte Schwelle wurde überschritten, die Hilfsbereitschaft ist zum Massenphänomen geworden.

Warum gerade jetzt?

Das hat sicher auch mit der positiveren Berichterstattung über Flüchtlinge zu tun: Selbst die Bild-Zeitung kennt plötzlich keine illegalen Wirtschaftsflüchtlinge mehr, vor denen wir unsere Grenzen schließen müssen, sondern berichtet lieber über Opfer und ihre Schicksale.

Und die internationale Presse berichtet über die großherzigen Deutschen.

Natürlich ist diese Hilfsbereitschaft auch ein Vehikel, um zu zeigen: Wir sind die guten Deutschen. Wir sind nicht die Nachfolger der Nazis, als die wir in Griechenland zuletzt gesehen wurden. Und natürlich gefallen sich Politiker gut in der Rolle der Helfer. Aber Heuchelei ist nicht der Hauptgrund für diese enorme Hilfsbereitschaft, viele sehen wirklich die Notlage der Flüchtlinge.

Thomas Faist

Thomas Faist ist Professor für transnationale Beziehungen und Entwicklungs- und Migrationssoziologie an der Universität Bielefeld.

(Foto: oH)

Journalisten berichten über die merkwürdige Euphorie, die sie bei den Helfern beobachtet haben. Tun wir Gutes, weil es vor allem uns selbst guttut?

Das gehört natürlich auch dazu. Und es ist ja nichts Verwerfliches daran, dass so eine Euphorie ansteckend ist.

Wie lang wird diese Hilfsbereitschaft anhalten?

Das Engagement der meisten wird sicherlich kurzfristig sein, aber es hilft denen, die sich schon lange engagieren. Sportvereine etwa oder Hilfsorganisationen kümmern sich ja schon seit Monaten und Jahren um Flüchtlinge. Und mancher, der jetzt spontan hilft, wird dranbleiben. Inwieweit aus dieser Hilfsbereitschaft auch eine breite Solidarität entsteht, ist eine andere Frage.

Was meinen Sie damit?

Mit Solidarität meine ich eine politische Haltung. Derzeit helfen die Deutschen den Flüchtlingen beim Ankommen. Solidarität bedeutet, dass wir einen Schritt weitergehen und auch über Asylgesetze nachdenken. Dass wir intensiv über Fluchtursachen reden und was deutsche Truppen und Waffen damit zu tun haben. Das ist eine heikle Diskussion und da halten sich die Politiker gerade sehr zurück. Es politisieren bislang nur Rechtspopulisten, die den Zuzug reglementieren wollen.

Die Pegida-Aufmärsche sind gerade einmal ein halbes Jahr her. Wenn der Flüchtlingsstrom anhält, wird Deutschland bald eine ganze Menge weiterer Muslime integrieren müssen.

Die eigentlichen Probleme stehen uns noch bevor, ganz klar. Aber ich glaube, dass die Menschen, die gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes auf die Straße gegangen sind, das aus einer anderen Position heraus gemacht haben. Das waren Menschen, die von Politikern und Parteien enttäuscht waren, die sich abgehängt fühlten, und leicht für rechtspopulistische Gedanken zu gewinnen waren. Und der Islam funktioniert nun mal als Abgrenzung innerhalb Europas. Viele Flüchtlinge, die jetzt kommen, sind Muslime. Aber sie werden nicht mehr hauptsächlich über ihre Religion wahrgenommen. Sie gelten derzeit nicht mehr als Terroristen, sondern im Gegenteil als Opfer des Terrorismus.

Haben Sie keine Angst, dass die Stimmung kippt? Immerhin gibt es nicht nur eine enorme Hilfsbereitschaft, sondern auch fast täglich Anschläge auf geplante Asylunterkünfte.

Rechtsextremismus wird es immer geben. Und sicher werden auch Rechtspopulisten in Deutschland versuchen, sich von muslimischen Flüchtlingen abzugrenzen, wie das schon in Ungarn oder Polen geschieht. Aber die Chancen sind groß, dass solche Stimmen hier in nächster Zukunft nicht zu laut werden. Die ökonomischen Rahmenbedingungen sind gut und die Flüchtlinge lassen sich, wenn sie mal eine Aufenthaltsgenehmigung haben, gut in den Arbeitsmarkt integrieren. Natürlich kommen nicht nur Ärzte, aber das ist eben doch eine bestimmte Schicht: Nur wer genügend Geld und Zugang zu den notwendigen Informationen hat, kann derzeit von Syrien nach Europa fliehen.

Was muss die Politik tun?

Politiker vergleichen die derzeitige Hilfsbereitschaft gerne mit den Herausforderungen der Wiedervereinigung. Ich habe da meine Zweifel: Damals ging es darum, eine Beziehung zu Menschen der gleichen Ethnizität aufzubauen, diesmal kommen Menschen aus aller Welt. Trotzdem glaube ich, dass historische Vergleiche helfen können. Thüringen hat nach dem Zweiten Weltkrieg Hunderttausende Vertriebene aufgenommen, jetzt kommen ein paar Tausend Flüchtlinge - das wird Thüringen locker schaffen, hat Ministerpräsident Bodo Ramelow gesagt. Politiker müssen solche Vergleiche jetzt nutzen, auch wenn sie hinken. Sie müssen ein Narrativ entwickeln und so den Boden für die Integration bereiten.

Wird diese Integration gelingen?

Das kann derzeit niemand vorhersagen. Man sollte deshalb nicht die neue deutsche Offenheit feiern, aber man muss auch nicht den Teufel an die Wand malen. Die enorme Hilfsbereitschaft kann ein Anfang sein, eine Chance weiterzudenken: Ohne Hilfsbereitschaft lässt sich die Frage nach Solidarität nicht stellen.

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