"Wie ich euch sehe" zu Stotterer:Stotterer: "Moment, es geht gleich weiter"

"Wie ich euch sehe" zu Stotterer: Bitte warten - es geht gleich weiter.

Bitte warten - es geht gleich weiter.

(Foto: Illustration: Jessy Asmus/SZ.de)

Wenn er den Mund aufmacht, zeigt sich sein Makel - und unserer: Oft vervollständigen wir seine Sätze oder übernehmen ungefragt seine Bestellung im Lokal. Ein Stotterer erklärt, warum ihn das wütend macht.

Protokoll von Violetta Simon

In unserer neuen Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: eine Kassiererin im Supermarkt, ein Zahnarzt, eine Polizistin oder ein Hochbegabter. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Enrico S. stottert seit seinem fünften Lebensjahr. Der 37-Jährige erklärt, warum ihn unsere Unbeholfenheit manchmal wütend macht.

Es ist dieser Kontrollverlust, der mir zu schaffen macht: Bis eben ging alles noch ganz flüssig, und plötzlich bleibe ich an einem Wort hängen. Das passiert besonders dann, wenn ich mich erschöpft fühle oder durch die Umgebung irritiert werde. Ich mag es auch nicht, wenn man mich unterbricht, das bringt mich aus der Fassung. Am meisten ärgert mich, dass ich dem anderen so eine Macht über mich einräume. Mitunter habe ich dann Fluchtgedanken und hoffe nur noch: Lass' mich das in Würde zu Ende bringen.

Es ist schon vorgekommen, dass ich meinen eigenen Namen nicht aussprechen konnte. "Hast du dich gerade umbenennen lassen?", bekam ich dann zu hören. Früher empfand ich so etwas als extrem verletzend, heute denke ich mir: Woher sollen sie es wissen? Gute Freunde dürfen mich auch mal nachäffen, damit habe ich kein Problem. Was mich nervt, ist die Unbeholfenheit, mit der mir manche von Euch begegnen.

Wie ein Grenzdebiler

Mir ist klar, dass die Situation für andere unangenehm werden kann, man fühlt sich irgendwie hilflos. Aber habt Ihr eine Vorstellung, wie ich mich fühle, wenn jemand anfängt, betont leise und langsam mit mir zu sprechen? Genau - wie ein Grenzdebiler. Man muss auch nicht meine Sätze vervollständigen. Oder mir von oben herab gut gemeinte Tipps geben wie "Lass dir ruhig Zeit!" Glaubt mir, durch verschiedene Stottertherapien weiß ich, was hilft und wovon ich besser die Finger lasse. Deshalb wäre ich Euch wirklich dankbar, wenn Ihr davon abseht, mir Ratschläge zu geben, die Ihr im Fernsehen gesehen habt, und die Stottern ganz leicht heilen sollen. Es macht mich einfach nur traurig, so falsch eingeschätzt zu werden.

Aus irgendeinem Grund fühlen sich manche meiner Gesprächspartner dazu eingeladen, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Ich vermute, das soll Augenhöhe herstellen und das vermeintliche Machtgefälle ausgleichen. Menschen, die stottern, scheinen bei anderen eine Art Beschützerinstinkt zu wecken. Ich weiß, Ihr meint es gut. Aber man muss im Restaurant nicht ungefragt für mich bestellen, ich kann mich selbst artikulieren. So etwas erschwert mir das Leben nur, weil so bei mir der Eindruck entsteht, dass man mich aufs Stottern reduziert.

Bitte nicht wegsehen

Wenn ich jemanden noch nicht kenne, helfen mir Blickkontakt und Körpersprache des anderen dabei, in Sekundenschnelle einzuschätzen, ob jemand Vorbehalte hat - eine Kompetenz, die viele Stotterer besitzen.

Manche gehen jedoch davon aus, ich könnte mich unter Druck gesetzt fühlen, wenn sie mich direkt ansehen. Dabei bringt es mich erst recht aus dem Konzept, wenn mein Gegenüber den Blick durch die Gegend wandern lässt oder an mir vorbeisieht. Die Kommunikation wird dadurch erschwert, das führt zu weiteren Missverständnissen und Fehleinschätzungen.

Ich möchte, dass Ihr das aushaltet

Wenn es passiert, schließe ich manchmal die Augen und konzentriere mich darauf, das Wort auszusprechen. Das ist eine Strategie, und es bedeutet nicht, dass Ihr solange woanders hinschauen oder Euch wegdrehen sollt. Schließlich bin ich ja nicht weggegangen. Es würde mir wirklich sehr helfen, wenn wir das gemeinsam aushalten und Ihr mich weiterhin anseht. Wenn Ihr auf mich wartet, damit wir an derselben Stelle fortfahren können, wenn ich die Augen wieder öffne.

Ihr werdet sicher verstehen, dass ich nur äußerst ungern mit Fremden telefoniere. In dieser Situation bin ich auf meine größte Schwachstelle reduziert - das Sprechen - und kann nichts ausgleichen. Versucht es also ruhig mehrmals, wenn Ihr mich erreichen wollt, denn wenn ich in der U-Bahn oder in einem Café sitze, gehe ich prinzipiell nicht ans Telefon. Sorry, Logopäden, ich weiß: Konfrontationstherapie und so. Aber das muss ich mir nicht geben.

Eine echte Herausforderung sind erste Dates. Ich meine, Partnersuche an sich ist schon keine leichte Aufgabe. Aber das ist die Hölle - womöglich noch in einem Lokal, unter lauter Fremden. Was glaubt Ihr: Wann ist der richtige Zeitpunkt, dem anderen zu sagen, dass man stottert? Meist habe ich es gleich am Anfang erzählt und wurde selten enttäuscht. "War mir gar nicht aufgefallen", bekam ich zu hören. Und ein andermal: "Na und? Ist doch süß!"

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass auch Stotterer viel dafür tun können, ihren Gesprächspartnern die Situation zu erleichtern. Zum Beispiel, indem sie das Stottern direkt ansprechen. So merken die Leute: Der geht locker damit um - dann kann ich das auch. Oft versuche ich es mit Humor: "Ich stottere", sage ich dann. "Aber es geht gleich weiter."

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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