"Wie ich euch sehe" zu Geburt:"Manchmal muss ich regelrecht die Tür verteidigen"

"Wie ich euch sehe" zu Geburt: Kannn sich vor lauter Unruhe manchmal nicht auf die Geburt konzentrieren: Hebamme Anne K.

Kannn sich vor lauter Unruhe manchmal nicht auf die Geburt konzentrieren: Hebamme Anne K.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Frauen, die sich um Ausscheidungen sorgen, Familien, die den Kreißsaal stürmen, Männer, die plötzlich umfallen: Eine Hebamme erzählt in einer Folge von "Wie ich euch sehe", was sie bei Geburten erlebt.

Von Julia Ley

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Protagonisten unseres Alltags zu Wort - Menschen, denen wir täglich begegnen, über die jeder eine Meinung hat, aber die wenigsten eine Ahnung: eine Wiesnbedienung, ein Pfarrer, die Frau an der Supermarktkasse. Sie erzählen uns, wie sie sich fühlen, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Gäste, Mitmenschen. Diesmal erklärt Hebamme Anne K., wie es im Kreißsaal zugeht.

Das Baby ist da, es ist gesund, die Mutter wohlauf: Das könnte ein magischer Moment sein, der nur den Eltern gehört - wenn da nicht die Familie wäre. Ich arbeite in einem Krankenhaus in Berlin, oft steht schon während der Geburt die Großfamilie vor der Tür und wartet. Teilweise stürmen dann zehn Leuten ins Zimmer, wenn die Frau untenherum noch nackt ist und verschwitzt, die Beine voller Blut. Als Hebamme muss ich dann erspüren, ob das für das Paar überhaupt gut ist. Die Frau will vielleicht keinen Besuch, aber das darf ich den Angehörigen nicht ins Gesicht sagen. Also versuche ich es höflich, doch manche Familien ignorieren mich einfach.

Das sind Grenzüberschreitungen, mit denen ich nie gerechnet hätte. Manchmal muss ich regelrecht die Tür verteidigen. Einmal haben eine Kollegin und ich Betten vor der Tür verkantet, um die Besucher aufzuhalten. Ich kann die Ungeduld ja verstehen, aber denkt doch mal nach: Niemand würde sich aussuchen, in einem solchen Zustand besucht zu werden. Es ist total unangemessen, das Handy zu zücken und Selfies zu machen. Manchmal sehe ich die Frauen ein paar Wochen später bei sich zu Hause wieder. Da hat dann plötzlich keiner mehr Zeit und die junge Mutter ist völlig überfordert.

Eine Sorge, die fast alle Frauen im Vorgespräch äußern, ist, dass unter der Geburt mehr Körperflüssigkeiten austreten könnten als ihnen lieb ist. Um es klar zu sagen: dass Stuhlgang abgeht. Der Gedanke, dass ihre Männer das sehen könnten, ist für viele unerträglich. Das kann ich gut verstehen. Aber vor mir braucht ihr euch wirklich nicht zu schämen! Das ist mir völlig egal, es gehört einfach zum Alltag.

Schwieriger sind für mich andere Dinge. Zum Beispiel würde es mir die Arbeit erleichtern, wenn ihr Frauen mehr Vertrauen in euren eigenen Körper hättet. Aber der eigenen Intuition vertrauen, das können viele heute nicht mehr. Bei einer platzte einmal die Fruchtblase, danach hat sie mich alle zwei Minuten gefragt: "Was läuft da?" - "Und was läuft da jetzt?" Am liebsten hätte ich ihr einen Spiegel in die Hand gedrückt. Ich glaube, dass Frauen das eigentlich können. Sie gehen mit Vertrauen in die Schwangerschaft. Aber es gibt leider eine Überversorgung in der Vorsorge, weil Ärzte sich gegen alles absichern wollen. Das verunsichert viele von euch.

Ihr gebt die Verantwortung für die Geburt dann an mich als Hebamme ab, statt auf die eigene Kraft zu vertrauen. Aber eine Geburt ist nun mal Arbeit, ich kann nur unterstützen. Sobald die erste Wehe kommt, sagen manche Frauen sofort: "Ich schaff das nicht." Und als nächstes: "Wann bekomme ich die PDA?", also die Narkose, die eine schmerzarme Geburt ermöglicht. Natürlich habe ich nichts gegen eine PDA, wenn ihr es irgendwann nicht mehr aushaltet. Aber ich finde es schade, wenn eine Frau schon mit der Einstellung zu mir kommt: Sobald die erste Wehe da ist, will ich nichts mehr mitbekommen. Viele erleben die Geburt mit der PDA viel passiver. Deshalb: Lasst euch doch erstmal darauf ein.

"Wie lange noch? Morgen wird meine Couch geliefert."

Interessant ist auch, wie sich Männer während der Geburt verhalten. Einige verkriechen sich in der hintersten Ecke und wissen nicht, was sie machen sollen. Dann gibt es solche, um die man sich mehr kümmern muss, als um ihre Frauen: Manchmal höre ich es plötzlich hinter mir holpern und der Mann ist in Ohnmacht gefallen. Ich versuche mittlerweile, diesen Typus schon vorher auszusieben, indem ich sage: "Wenn Ihnen schlecht wird, setzen Sie sich hin." Das soll nicht gemein klingen, aber ich habe einfach keine Zeit, euch auch noch die Beine hochzuhalten und kalte Waschlappen aufzulegen.

Viele sind ungeduldig. Sie verstehen nicht, dass eine Geburt viel mit Ruhe und Warten zu tun hat. Gerade die Männer fallen immer aus allen Wolken, wenn ich ihnen sage: Das Kind kommt vielleicht erst in ein paar Tagen. Einer hat mich ernsthaft gefragt: "Entschuldigung, wie lange dauert das noch? Morgen wird meine Couch geliefert." Andere klammern sich an den technischen Geräten fest, die im Raum stehen. Wie zum Beispiel der werdende Vater, der die ganze Zeit nur auf den Wehenschreiber starrte und plötzlich sagte: "Boah, das war jetzt ne starke Welle." Seine Frau lag direkt daneben, sie hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Da musste ich schmunzeln. Eure Verunsicherung kann ich nachempfinden. Aber eine Geburt ist einzigartig. Wie könnt ihr da die ganze Zeit auf Geräte starren, statt für eure Frauen da zu sein?

Viele Männer halten es nicht aus, wenn ihre Frau schreit, vor allem, wenn sie Dinge sagt wie "Ich schaffe das nicht" oder "Ich sterbe". Oft nehmen die Männer uns Hebammen mit vor die Tür und erklären uns, dass ihre Frau jetzt ein Schmerzmittel braucht. Ich würde mir wünschen, dass ihr uns und vor allem eurer Partnerin mehr vertraut. Solange sie kein Schmerzmittel fordert, sollte man das gar nicht in den Raum stellen. Denn die Frau spürt euer Unbehagen und eure Angst. Im Zweifel hat sie das Gefühl, euch noch mitmanagen zu müssen.

Deshalb ist es als Mann wichtig, sich klarzumachen, dass man auch gehen darf. Ein Paar sollte schon vorher einen Plan B haben und überlegen, wer stattdessen kommt. Die Frau hat während der Geburt Hormone, die sie durchhalten lassen, das hat der Mann nicht. Die Geburt ist eine Ausnahmesituation. Da zählt nur die werdende Mutter. Für diese paar Stunden solltet ihr eure eigenen Bedürfnisse komplett hintanstellen, liebe Männer. Das heißt: der Frau geben, was sie braucht, ganz egal, was sie will und ob sie das jemals zuvor wollte. Und ihr nichts übelnehmen. Das klingt jetzt hart, aber: Während der Geburt seid ihr einfach total zweitrangig.

Meine Lieblingsmänner sind übrigens die "Prepper", wie ich sie insgeheim nenne. Die sind gut vorbereitet und haben 1a-Snacks dabei. Manche wollen eine kalte Cola - und der perfekt vorbereitete Mann hat dann einen Kühlbeutel dabei. Genau das könnt ihr Männer oft sehr gut: findig sein, versorgen, umsorgen.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer persönlichen Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie ihnen schon immer einmal sagen? Senden Sie uns eine kurze Beschreibung per E-Mail an: violetta.simon@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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