Wie ich euch sehe:"Sucht ihr extra nach den kleinsten Groschen?"

Wie ich euch sehe: Wie ich euch sehe - aus der Perspektive eines Straßenmusikers.

Wie ich euch sehe - aus der Perspektive eines Straßenmusikers.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

In der Münchner Innenstadt dürfen nur Virtuosen musizieren, sagt Ivan H. Wie der Akkordeonist die Passanten wahrnimmt, erzählt er in einer neuen Folge von "Wie ich euch sehe".

Von Leonie Gubela

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, denen wir im Alltag begegnen, über die sich die meisten jedoch kaum Gedanken machen: ein Obdachloser, eine Kontrolleurin, ein Sanitäter oder eine Rosenverkäuferin. Sie erzählen, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal beschreibt der Akkordeonist Ivan H., wie er seine Zuhörer in der Innenstadt erlebt.

Es gibt diese Momente, da gehe ich unter: Presslufthammer, penetrante Kirchenglocken, eine Hochzeitsgesellschaft, Menschen, die direkt vor mir Tauben füttern. An solchen Tagen fehlt mir die Inspiration. Dann spiele ich mechanisch meine Melodien und rechne dabei im Kopf aus, ob und wieviel Gewinn ich heute mache. Das ist nicht von Vorteil, denn ich muss gute Laune haben, wenn ich für euch Musik mache. An diesen Tagen denke ich jedoch an die 3,50 Euro, die die Parkuhr stündlich frisst und an die zehn Euro, die mich die Genehmigung gekostet hat.

Genehmigung? Ganz richtig: Die wenigsten von euch wissen, dass in München rund um den Marienplatz nur die Besten der Besten musizieren und dafür frühmorgens vor der Stadtinformation anstehen müssen. Um sechs Uhr in der Früh reihe ich mich also in die Schlange ein, in der Hoffnung auf eine der begehrten und begrenzten Zulassungen für die Fußgängerzone. Wenn ich Glück habe, klappe ich später irgendwo zwischen Marien- und Odeonsplatz meinen Stuhl auf, platziere den Koffer vor mir, öffne den Balg des Instruments und spiele erst mal ein Powerstück, um wach zu werden.

Manchmal kommt es vor, dass ein kleiner Tropfen auf meiner Stirn landet. Und noch einer, und es regnet. Zu meiner kleinen Rechnung kommen dann gleich noch 60 Euro Reparaturkosten hinzu - Luftfeuchtigkeit schadet dem Instrument.

Wenn ihr im Nieselregel wie mit Scheuklappen an mir vorbeirauscht, habe ich natürlich Verständnis dafür. Bei strahlendem Sonnenschein weniger. In kleineren Städten ist das anders. Da nehmt ihr euch nach dem Einkauf auf dem Wochenmarkt Zeit, egal bei welchem Wetter, haltet inne und hört mir zu.

Mozart, Dieter Bohlen oder Rolling Stones

In München rennen die Touristen wie eine Horde Pferde an mir vorbei, immer der Frau mit dem Schirm hinterher, los, los, schnell zum nächsten Wahrzeichen. Da könnten auch Mozart, Dieter Bohlen oder die Rolling Stones sitzen - es wäre einerlei. Dabei gibt es dafür sogar einen guten Grund. Ich habe mal bei einer Gruppe Japanern nachgefragt: Die sind dienstags in München, donnerstags in Paris, freitags in Barcelona.

Dabei freue ich mich über internationales Publikum. Ich spreche viele Sprachen und kenne beispielsweise spanische, brasilianische oder sogar hawaianische Hits, moderne Stücke oder klassische. Wenn ich sehe, da kommt eine Gruppe Chinesen, spiele ich auch mal die Kung-Fu-Hymne, damit sie stehenbleiben. Was ich nicht mag: Wenn zum Beispiel ein Russe zu mir hinkommt und sagt, er gibt mir zehn Euro, wenn ich Kalinka spiele. Ich bin doch keine Jukebox!

Wenn ihr euch die Zeit nehmt und mir applaudiert, dann schätze ich das natürlich, es ist eine nette Geste. Doch von der Anerkennung allein kann ich nicht leben. Ich freue mich über den Gegenwert eines Cappuccinos. Bevor ich anfange zu spielen, habe ich immer schon 40 Euro im Koffer vor mir. Zwei Zehner, drei Fünfer und ein paar Münzen. Ihr könnt euch vielleicht denken, warum ich das mache.

So viele wunderbare Momente

Manchmal habe ich das Gefühl, ihr sucht extra nach den kleinsten Groschen in euren Portemonnaies. Einmal habe ich zu einer Frau gesagt, die ihr Kupfer bei mir abgeladen hat: "Das ist schon in Ordnung, ich brauche das nicht. Wenn Sie kein Geld haben, ist das gar kein Problem."

Wenn ihr mir lange zuhört und dann einfach weitergeht, nehme ich euch das aber auch nicht übel. Ich will keine schlechte Energie an mich heranlassen. Ärgerlich ist, wenn jemand eine meiner CDs kauft, ich ihm mein ganzes Wechselgeld rausgebe und der nächste dann auch nur mit einen Fünfziger zahlen kann. Dann haben wir beide Pech gehabt. Es ist wie mit einer Sahnetorte - die fällt auch immer auf die falsche Seite.

Hin und wieder fragt ihr mich, ob ich mir das Musizieren selber beigebracht habe. Na, klar. Genau wie dieser ganz tolle Chirurg, den ich kenne - er ist ein Naturtalent. Natürlich habe ich mir das nicht selbst beigebracht! Ich habe mit fünf Jahren Geige gelernt und spiele Akkordon, seit ich acht bin. Ich hatte jahrelang Unterricht, genau wie viele andere Straßenmusiker, die teilweise renommierte Konservatorien besucht haben. Ich komponiere Musik für Tanztheater und Filme, hin und wieder gebe ich auch Konzerte.

Ich klinge vielleicht ein bisschen bitter, dabei bin ich das gar nicht. Mein Beruf beschert mir so viele wunderbare Momente, ich kann sie gar nicht zählen: Einmal spielte ich spätabends in München ein Stück aus dem Film "Das Zigeunerlager zieht in den Himmel" nach einer Erzählung von Maxim Gorki. Und sang sogar dazu, das mache ich heute nicht mehr oft. Ich singe da also mit geschlossenen Augen, als wie aus dem Nichts eine Frau erscheint, gekleidet wie die Figuren im Film. Sie singt den Solo-Part aus dem Stück wie eine junge Göttin. Ein Gitarrist und ein Percussionist, die etwas weiter die Straße runter stehen, kommen dazu und stimmen mit ein. Wie ich danach erfuhr, kam die junge Frau von der Oper in Sarajevo.

Oder damals, als ich vor dem Kaufhof "Viva Mexico" gespielt habe, ihr wisst schon: "Viva la, viva lo, viva la la la Mexico", da höre ich plötzlich hinter mir lauter Gitarren, bestimmt zehn. Ich drehe mich um und sehe 20 Mexikaner auf mich zulaufen, mit Sombreros und riesengroßen Bassgitarren. Sie haben mich begleitet, und ich dachte nur: Das ist der absolute Wahnsinn.

Eines Tages kam ein Jugendlicher mit Rollerblades auf mich zugefahren und sagte, ohne mich gäbe es ihn gar nicht. Und ich, ganz verdutzt, fragte ihn, was er damit meint. Da erzählte er, dass seine Eltern sich kennengelernt hätten, als sie mir zuhörten und sich beide eine CD kaufen wollten. Ich hatte aber nur noch eine - und darüber sind sie dann ins Gespräch gekommen. Mittlerweile seien sie aber geschieden. Da unterbrach ich ihn und sagte, pscht, für mich soll die Geschichte bitte ein Happy End haben.

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

  • "Brauchen wir länger, tut uns das genauso weh"

    Ständig unter Strom und trotzdem meist zu spät: Ein Pizzabote erzählt, was er riskiert, um seine Lieferung möglichst schnell zum Kunden zu bringen. Und warum er sich oft wie ein Detektiv vorkommt.

  • "Die meisten wollen mich anfassen"

    Zum Jahreswechsel werden wieder kleine Schornsteinfeger-Figuren verteilt. Ein Kaminkehrer erzählt in einer Folge von "Wie ich euch sehe", wie es sich als rußüberzogener Glücksbringer lebt.

  • "Manchmal muss ich regelrecht die Tür verteidigen"

    Frauen, die sich um Ausscheidungen sorgen, Familien, die den Kreißsaal stürmen, Männer, die plötzlich umfallen: Eine Hebamme erzählt in einer Folge von "Wie ich euch sehe", was sie bei Geburten erlebt.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung Ihrer Situation per E-Mail an: violetta.simon@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

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