Wenn IS-Kämpfer weinen :Sentimentalisten

Sie sind grausam und gnadenlos, aber Dschihadisten lesen auch gerne Gedichte und deuten Träume. Gerade diese weiche Seite finden viele Anhänger verlockend.

Von Ronen Steinke

Der einstige Anführer von al-Qaida im Irak, Abu Mussab al-Sarkawi, hatte einen Spitznamen, so ausgelutscht, dass ihn wahrscheinlich schon Tausende Milizenführer vor ihm hatten: "der Schlächter", auf Arabisch al-Dhabbah. Außergewöhnlich ist, dass der Islamist noch einen zweiten Spitznamen hatte, der ihm viel lieber war. Al-Baki, "der, der viel weint". Bei seinen Anhängern war er berühmt dafür, dass ihm oft die Tränen kamen. Der Mann, der im Irak so viele Geiseln und Zivilisten ermorden ließ, dass er selbst von seiner eigenen Al-Qaida-Führung abgemahnt wurde, inszenierte sich als Liebhaber zarter Poesie und Traumdeutung. Nah am Wasser gebaut. Das war seiner Gefolgschaft nicht peinlich. Sie rühmten ihn dafür.

Es gibt, wenn man bei Facebook oder Twitter durch die seltsame Welt der Dschihad-Begeisterten wandelt, auffällig viele solche Erzählungen. Es kommen viele Ergriffene vor. Radikale Gruppen verwenden viel Mühe auf Aktivitäten, die geradezu dafür gemacht sind, Rührung auszulösen: das gemeinsame Singen von Versen, Traumdeutungen, Gedichtabende. "Brüder haben mit ihm geweint, manche hörbar, andere haben ihre Tränen lautlos vergossen", schreibt ein junger Rekrut der Miliz "Islamischer Staat" in einem Blog.

Harte Kerle, die sich vor versammelter Mannschaft weich zeigen? In der westlichen Militärkultur wäre das ein Widerspruch. Gefühlsregungen passen nicht zum Image des Kämpfers. Vielleicht liegt es hieran, so überlegt der Terrorismusforscher Thomas Hegghammer, dass westliche Beobachter über dieses kuriose Phänomen so lange hinweggesehen oder darin jedenfalls keinen größeren Sinn erkannt haben. Bei Gruppen wie al-Qaida oder dem IS sei es anders: "Diese Menschen sind oft auf einem sehr intensiven emotionalen Trip, und das soll jeder sehen", sagt er. "Genau damit ziehen sie neue Anhänger an."

Wenn IS-Kämpfer weinen : Immer züchtig bekleidet: IS-Kämpfer beim Schwimmen.

Immer züchtig bekleidet: IS-Kämpfer beim Schwimmen.

(Foto: privat)

Hegghammer, 40, ist Norweger. Er arbeitete lange als Direktor für Terrorismusforschung am Norwegian Defense Research Establishment, schon seit fünfzehn Jahren studiert er dschihadistische Gruppen, und er sagt von sich selber: "In den ersten zehn habe ich mir nur die Standardfragen gestellt: Wie ist Gruppe A entstanden, was hat der Ideologe B geschrieben, wer schließt sich Gruppe C an und so weiter. Ich wusste, dass diese Gruppen weinen und Poesie lesen, aber ich habe es nie wirklich wahrgenommen. Es war wie Hintergrundrauschen für mich, das ich beiseiteschieben musste, um zu den wirklich harten Informationen über Akteure und Ereignisse zu gelangen."

Irgendwann fiel ihm auf, wie wenig selbstverständlich diese Freizeitaktivitäten eigentlich sind. Terroristen sind Gejagte. Sie haben keine Zeit für Unnützes. Wenn sie sich Zeit nehmen für Gedichte und Träume, müssen diese eine besondere Bedeutung haben. Seither erforscht Hegghammer systematisch ihre Lieder, Gedichte und Spiele, im Mai erscheint sein Sammelband "Jihadi Culture: The Art and Social Practices of Militant Islamists" bei Cambridge University Press, besondere Fundstücke zeigt er laufend in seinem Tumblr-Blog "Bored Jihadi".

Zwei Sportarten, bei denen sich IS-Kämpfer besonders oft fotografieren lassen, sind das Schwimmen und Reiten. Das sind Vergnügungen, die schon der Prophet den Gläubigen empfohlen haben soll. Es gab zwar noch eine dritte, das Bogenschießen, aber das wird heute von Dschihadisten nicht wörtlich interpretiert, sie üben stattdessen mit Feuerwaffen. Die Bilder davon, ins Netz hochgeladen aus den Bürgerkriegsgebieten Syriens und des Irak, haben etwas Obszönes: das Mörderische neben dem Banalen. Womit man schon bei der dringenden Frage an Thomas Hegghammer wäre: Wieso, bitte, sollte man sich überhaupt dafür interessieren, was IS-Kämpfer zu ihrer Erbauung tun? Ist das nicht zynisch angesichts ihrer Opfer?

Diese Menschen sind oft auf einem sehr intensiven emotionalen Trip.“

Thomas Hegghammer, Terrorexperte

Hegghammer: "Es geht um die Frage: Was zieht Menschen in diese Szene hinein? Warum haben sich Zehntausende Menschen aus der ganzen Welt entschieden, unter der drakonischen Herrschaft des IS zu leben und unter dessen schwarzer Flagge zu kämpfen? Um dieses Phänomen zu verstehen, müssen wir erkennen, dass die Welt des radikalen Islamismus nicht nur Tod und Zerstörung ist." Wenn ehemalige Dschihadisten von ihrem Leben im Untergrund berichten, verwenden sie oft eine sehr gefühlvolle Sprache. Sie reden davon, wie angenehm es war. Es geht um Freude, Kameradschaft, das wohlige Gefühl der Nähe zu Gott. Die Furcht vor Gott. Um solche Gefühle hervorzurufen, spielen Musik, Poesie, Traumdeutung eine größere Rolle als trockenere Dinge wie ideologische Texte, glaubt Hegghammer. "Es gibt positive emotionale Belohnungen für Leute, die sich dieser Szene anschließen", sagt er.

Hegghammer spricht von einer "historischen Tiefe", auf die bei allen Vergnügungen Wert gelegt werde. Auch das helfe dabei, neue Rekruten anzulocken. Der Salafismus präsentiert sich einem jungen Muslim als authentischer im Vergleich zu anderen radikalen Lebensstilen. "Denken Sie zum Kontrast an Neonazis oder den Ku-Klux-Klan", sagt Hegghammer. "Diese völlig bizarren, erfundenen Rituale und Kostüme. Das hat etwas bewusst Exotisches. Islamisten kämen nie auf so eine Idee. Sie meiden jede Extravaganz. Alles soll vertraut wirken." So ist es bei den Sportarten, und so ist es auch bei den Kunstformen: IS- oder Al-Qaida-Leute pflegen bewusst althergebrachte Formen, etwa die religiös angehauchten Gesänge, die überall in konservativ-islamischen Milieus beliebt sind, die sogenannten Naschids; nur die Songtexte sind anders.

Auf Europäer mag die Sache mit der Traumdeutung skurril wirken. Mullah Omar zum Beispiel, der einäugige Taliban-Anführer, der 2013 gestorben ist, traf angeblich keine wesentliche strategische Entscheidung, ohne zuvor seine Träume konsultiert zu haben. Aber auch das hat in der gesamten muslimischen Welt Tradition, nichts daran ist spezifisch dschihadistisch. Ein Kämpfer zeigt sich damit nicht exzentrisch, sondern im Gegenteil besonders volkstümlich; ähnlich wie ein deutscher Politiker, der in Fußballmetaphern spricht. Die Idee ist, dass Gott im Traum verschlüsselte Hinweise auf Dinge sendet, die geschehen werden.

Wenn IS-Kämpfer weinen : Kämpfer des IS inszenieren sich auf Propagandafotos im Netz.

Kämpfer des IS inszenieren sich auf Propagandafotos im Netz.

(Foto: privat)

Wenn Spione oder Ermittler die eng verschworenen Zirkel von Dschihadisten unterwandern wollen, müssen sie solche kulturelle Codes kennen. Deshalb interessieren sich zunehmend auch Sicherheitsbehörden für die Themen von Thomas Hegghammer. Viel mehr noch steht die gesamte westliche Welt vor der Frage, was die unheimliche Anziehungskraft dieser Gruppen ausmacht. Schon mehr als 910 Menschen allein aus Deutschland sind zum IS hingereist, im Durchschnitt waren sie 25,8 Jahre alt. Sicher, darunter werden viele sein, die persönlichen Problemen entfliehen oder die Außenpolitik des Westens rächen wollen. Aber manche gehen vielleicht auch deshalb, weil sie eine Gemeinschaft suchen, die sie emotional anspricht.

Westliche Regierungen mögen in der Lage sein, den "Schlächter" Abu Mussab al-Sarkawi zu schlagen. Viel schwieriger ist es, "den, der viel weint" zu besiegen.

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