Wenn der Opa ins Heim muss:Am schlimmsten ist die Liebe

Ins Heim abschieben will den Opa niemand. Was passiert, wenn ein Mensch, der uns nahesteht, zum Pflegefall wird. Ein Erfahrungsbericht.

Birgit Lutz-Temsch

Der Opa. Wenn die Enkel mit ihrem Auto auf den Hof fahren, steht er oft da. Mit einem Besen. Mit dem Rasenmäher. Mit dem Gartenschlauch. Der Opa, er arbeitet immer. Steck ein, sagt er, und drückt einem ein Fünf-Mark-Stück in die Hand. Ein andermal sagt er, mach mal den Tankdeckel auf. Dann lässt er einen Kanister Benzin in den Tank gluckern. Oder er sagt, gib mir deinen Autoschlüssel. Dann wäscht er das Auto, innen und außen, bis es blitzt. So ist das, in dieser Familie. Liebe zeigt man, indem man etwas tut für die anderen. Der Opa hat nie gesagt, ich hab dich lieb. Man schaut, was der andere braucht. Und dann macht man es einfach. Den Autoschlüssel legt er auf die Treppe. Denn der Opa wohnt unten. Im ersten Stock die Eltern. Im zweiten die Enkel. Ein großes Haus. Gebaut hat es der Opa. Erst mit der Oma. Dann mit dem Sohn. Für alle.

Erste bundesweite Pflegenoten liegen vor

Ein kleines Kind lernt jeden Tag was dazu. Der Opa verschwindet jeden Tag ein Stückchen mehr. Egal, was man tut. Es geht nie mehr nach vorn. Foto: ddp

(Foto: ag.ddp)

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Wenn viele Menschen am Tisch sitzen, sagt der Opa kaum noch was. Früher, da hat er viel erzählt. Aus seinem Leben. Vom Krieg. Von den Währungsreformen und davon, dass das Geld dann vor lauter Reformen irgendwann ganz weg war. Vom Hausbau, ohne Geld. Die Geschichten des Opas waren nie langweilig. Schaut's, dass kein Krieg mehr kommt, hat er gesagt. Im Krieg, da sterben die Menschen nicht, da verrecken sie. Jetzt hört er schlecht, aber das gibt er nicht zu. Sein Hörgerät liegt im Schrank. Das scheppert so, sagt der Opa. Es geht ja auch ohne. Wenn man lauter redet. Dann redet der Opa auch wieder. Und seine Augen, die sind immer noch hellblau und hellwach.

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In München steht ein Hofbräuhaus. Das sagt der Opa. Jedes Mal, wenn die Enkelin, die jetzt in München wohnt, zu Besuch kommt. Ein Ritual ist das. Steht München noch? Schickt er immer hinterher. Ja, es steht noch. Dann schreit man sich ein bisschen an, denn der Opa hört immer schlechter. Manches versteht er falsch, und dann gibt er Antworten, die überhaupt nicht zur Frage passen. Aber mit so fester Stimme, als sei er sich ganz sicher, genau das gefragt worden zu sein. Er überspielt seine Schwerhörigkeit. Die Oma lacht manchmal darüber. Und manchmal schimpft sie. Aber das macht nichts. Einen langen Weg haben die beiden hinter sich. Und jetzt sitzen sie nebeneinander in der Hollywoodschaukel. Sie liest Romane. Er Zeitung. Diese Schaukel ist wohl der einzige Luxus, den sie sich je geleistet haben.

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Der Opa hat Schmerzen im Bein. Das ist die Bandscheibe, sagt der Arzt, das muss man operieren. Also kommt der Opa ins Krankenhaus. Vollnarkose. Als der Opa aufwacht, erkennt er seinen Sohn nicht. Als der Sohn weg ist, will er aufstehen. Das darf er nicht. Er versteht nicht, warum. Dass er operiert worden ist, weiß er nicht. Er randaliert. Die Krankenschwester ruft den Sohn an. Der Vater sei sehr schwierig. Am Tag darauf ist der Opa wieder normal. Bei der Oma beschwert er sich, dass sich der Sohn gar nicht blicken lässt. Die Oma erschrickt.

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Suche nach dem Nachtquartier

Der Opa liest jetzt keine Zeitung mehr. Er sieht auch nicht mehr fern. Er geht von der Küche ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in den Garten, vom Garten ins Wohnzimmer und wieder in die Küche. Wenn man jetzt zu Besuch kommt, schaut er verwirrt. Er fragt nicht mehr, ob München noch steht. Auch das Hofbräuhaus ist kein Thema mehr. Wenn man lange bei ihm ist, mit ihm schweigt, sich einlässt auf seine Geschwindigkeit, dann findet man ihn manchmal noch. Dann weiß er irgendwann wieder, das ist seine Enkelin. Urplötzlich stellt er dann Fragen. Nach dem Ehemann. Nach der Arbeit. Die Oma sitzt daneben. Presst die Lippen aufeinander. Manchmal ringt sie mit den Händen, manchmal schüttelt sie den Kopf.

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Wo können wir denn heute Nacht bleiben? Das fragt der Opa die Oma. Und die Oma sagt, wo sollen wir denn bleiben, wir sind doch zu Hause. Wo ist denn unser Quartier?, fragt er weiter, und die Oma sagt, aber wir sind doch zu Hause, wir brauchen kein Quartier. Da steht er auf, mit einem Ruck, und sagt, wo sind denn unsere Kennkarten. Und die Oma, die ein schwaches Herz hat und Schmerzen in den Beinen und den Hüften, hievt sich aus dem Sessel und geht ihm hinterher. Hundertmal am Tag. Die Oma sagt, sie wird noch genauso verrückt wie er.

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Die Schwiegertochter kniet am Boden und wischt auf, was der Opa da angerichtet hat, die Oma weint fast vor Scham, und der Opa versteht nicht, was los ist. Er weiß nicht mehr, wo die Toilette ist. Der Papierkorb in der Küche, der Schrank im Flur, alles, was man irgendwie aufmachen kann, ist Toilette. Die Oma muss ihm jetzt immer hinterherlaufen, wenn er das Wohnzimmer verlässt. Die Schwiegertochter steht jetzt wieder so früh auf wie damals, als ihre Kinder klein waren. Vor der Arbeit versorgt sie den Opa. Sie kocht. Sie wäscht. Sie putzt. Sie bringt den Opa ins Bett, zieht ihn morgens an. Sie badet ihn und schneidet ihm die Fußnägel. Sie rasiert ihn und fährt ihn zum Frisör. Sie fährt ihn zum Arzt und wieder nach Hause. Sie kauft ein. Sie springt die Treppen nach unten, sobald der Alarm klingelt. Den haben die Kinder installiert, damit die Oma schnell Hilfe holen kann. Das Haustelefon kann sie nicht mehr bedienen. Ein Knopf, das geht besser. Die Oma, manchmal weint sie jetzt.

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Der Opa schaut seine Schwiegertochter an. Erstaunt, ängstlich. Steif ist er, ganz steif. Beruhigend redet sie auf ihn ein. Hebt seine Beine ins Bett. Drückt den Oberkörper sanft in die Kissen. Aber der Opa ist so steif und verkrampft, dass die Knie nach oben stehen und der Oberkörper auch. Er zittert. Er hat Angst. Er weiß nicht, wo er ist. Er redet wirr, ohne den Mund zu bewegen. Man versteht ihn nicht. Die Oma hat die Schwiegertochter geholt, wieder einmal. Weil der Opa keine Ruhe gibt. Der Sohn steht in der Tür. Es ist zwei Uhr nachts. Die Oma weint. Sie will den Kindern nicht so viel Arbeit machen. Die Schwiegertochter streicht der Oma über die Haare. Das passt schon, sagt sie.

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Jetzt hat die Schwiegertochter aufgehört zu arbeiten. Weil es nicht mehr geht, der Opa, die Oma, die Arbeit. Aber den Opa in ein Heim geben? Das macht man nicht. Nicht bei uns. In ein Heim abschieben, das machen andere. Die ihre Eltern loswerden wollen, die sie nicht lieben, die undankbar sind und egoistisch. Das sind wir nicht. Der Opa ist so ein guter gewesen. Hat so viel gemacht für uns. Ins Heim, das geht nicht. Jetzt sind wir dran. Aber "wir" - das ist vor allem die Schwiegertochter, denn die kann besser umgehen mit dem Opa als der Sohn. Es gäbe auch noch eine Tochter und einen Schwiegersohn. Aber die wohnen nicht im Haus. Und die Enkel leben alle in anderen Städten. Als Erstes ist also immer die Schwiegertochter dran. Urlaub? Am Wochenende wegfahren? Einfach mal zu den Kindern fahren? Dazu braucht es jetzt Organisation, Vertretung. Alles ist schwierig. Allein will man Oma und Opa nicht mehr lassen. Damit nichts passiert.

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Dr vergessene Strick

Sohn und Schwiegertochter fahren kaum noch zu ihren Kindern und ansonsten überhaupt nicht mehr weg. Sie sind immer zu Hause. Die Schwiegertochter jammert nicht. So ist das halt jetzt, sagt sie. Aber immer öfter sagt sie auch, sie schafft das bald nicht mehr. Das Schlimme ist, dass es nie mehr besser wird, sagt sie. Ein kleines Kind lernt jeden Tag was dazu. Der Opa verschwindet jeden Tag ein Stückchen mehr. Egal was man tut. Es geht nie mehr nach vorn. Der Sohn hadert. Immer haben sich andere Menschen auf ihn verlassen, seine Eltern, seine Kinder. 45 Jahre hat er gearbeitet. Endlich Rente, Freiheit. Und nun ist er doch wieder eingesperrt. Aber wenn man beim Opa sitzt und denkt, was er alles getan hat, wie er gelebt hat, was er uns vorgelebt hat. Es geht einfach nicht. Am schlimmsten ist die Liebe. Es tut so weh, zu sehen, wie der Opa jetzt ist. Es tut so weh, zu wissen, wie er war. Es tut weh, zu sehen, wie sich alle aufreiben. Der Opa möchte das nicht. Als er noch denken konnte, sagte er immer, bevor er ein alter Depp wird, nimmt er einen Strick und hängt sich auf. Aber das hat er dann auch vergessen.

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Die Schwiegertochter weint. Der Sohn ist wütend. Das ist er nur, weil auch er sonst weinen würde. Der Opa. Jetzt ist es so weit. Jetzt kommt er ins Heim. Weil es nicht mehr geht. Die Schwiegertochter schafft es nicht mehr, den Opa aus dem Bett zu hieven, ihn wieder hineinzuhieven, ihn rund um die Uhr zu versorgen. Und die Oma, wir haben Angst um die Oma. Nicht, weil wir fürchten, dass der Opa sie verrückt macht, wie sie sagt. Aber dass irgendwann ihr Herz stehen bleibt, wenn er wieder die ganze Nacht umhergeistert, keine Ruhe gibt, sie nicht schlafen lässt, so lange, bis sie den Alarmknopf drückt. Ich bin so müde, sagt sie immer öfter.

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Die Schwiegertochter, ihre Stimme am Telefon versagt. Sie haben ihn festgebunden. Über Nacht. Weil er aufsteht. Und dann hinfällt. Und weil es dort niemanden gibt, der mit ihm in der Nacht aufsteht, aus dem Fenster schaut, ihn wieder ins Bett hineinredet, hineinhebt, fünf-, sechs-, zehnmal die Nacht. Anstelle eines solchen Menschen gibt es dort einen Gurt. Wir schweigen ins Telefon hinein, an beiden Enden. Wir sind entsetzt. Über uns. Über das, was passiert. Jetzt ist der Opa einer von denen, die im Heim sitzen, allein. Die festgebunden werden. Es schnürt uns alles ab. Was muss er für eine Angst haben. Wir haben ihn im Stich gelassen. Die Schwiegertochter sagt, es zerreißt ihr das Herz. Das wollte man doch nie, nicht wir, nicht den Opa. Aber sie selber, sie kann auch nicht mehr.

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Die Urenkelin ist die Einzige, die den Opa jetzt noch besuchen kann. Wenn er sie sieht, die kleine blonde Dreijährige, unbekümmert und blauäugig, wenn sie ihm über die Hand streicht, ohne Angst und mit viel Zärtlichkeit, dann wacht der Opa auf. Er unterbricht das Gebrabbel, das man nicht versteht. Er schaut dem Enkel in die Augen und sagt ganz klar: Ist das die deine? Und der Enkel sagt, ja, das ist die meine. Der Opa verfolgt die Urenkelin, die umherflitzt, mit den Augen. Er lächelt. Er lacht sogar ganz leise. So wie früher. Es tut so gut, das zu sehen. Es tut so weh, das zu sehen. Der Opa, da ist er ja doch noch.

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Der Sohn ist wütend. Weil sie sich nicht kümmern, im Heim. Weil sie ein Heidengeld bekommen. Und immer wieder vergessen, dem Opa die Zähne morgens einzusetzen. Ihm die Jacke seines Zimmernachbarn anziehen. Den Rollstuhl nicht richtig reparieren, aber trotzdem Geld verlangen für die Wartung. Weil man das Gefühl hat, wenn man nicht immer präsent ist, machen die mit dem Opa, was sie wollen. Weil man das Gefühl hat, immer auf ihn aufpassen zu müssen. Jeden Tag fahren sie deshalb ins Heim. Auch, weil die Oma das so will. Jeden Tag um halb vier. Jeden Tag sitzen sie dann eine Stunde oder länger in der Caféteria. Dort sitzen noch andere Angehörige, mit anderen Menschen in anderen Rollstühlen. Die Oma steckt dem Opa Kekse zu, die er zerbröselt und isst. Sie hält seine Hand. Er springt immer wieder auf, aus dem Rollstuhl. Die Schwiegertochter sagt, sie hält das nicht mehr aus, sie ist nur noch vom Tod umgeben. Der Sohn sagt, so hat er sich das nicht vorgestellt. Noch zehn Jahre, und er kann sich auch in so einen Rollstuhl setzen. Und bis dahin, soll das alles gewesen sein?

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Wo die Zeit nur hin ist

Heute sind wir spät. Es ist ein heller, warmer Sommertag draußen. Wir haben gespielt, mit den Kindern im Garten. Dann der Opa, der Opa ist ja auch noch da. Schnell noch zu ihm. Aber halb sechs, das ist im Heim schon Schlafenszeit. Der Opa liegt schon im Bett, in einem dunklen Zimmer. Halb sechs! Aber die Pfleger, die wollen auch ihren Feierabend. Der Opa werkelt an seinem Gurt herum. Der Gurt. Ja, den braucht es, sonst fällt der Opa aus dem Bett. Wir haben uns an den Gurt gewöhnt. Der Opa nicht. Wir stehen im Zimmer, Enkel und Enkelin und die beiden Urenkelinnen. Die kleinen Mädchen schweigen. Mit großen Augen schauen sie den Uropa an. In seinem Schlafanzug sieht er noch armseliger, noch älter, noch knochiger und dünner aus. Er schaut uns an, erstaunt, verängstigt. Man hilft ihm auf, setzt ihn auf die Bettkante, in den Rollstuhl. Wir streichen ihm übers Haar. Warum sind wir nicht früher gekommen? Die Urenkelin streichelt seine Hand. Und wieder lächelt er. Die kleine Fee. Zaubert einfach so ein Lächeln herbei. Der Opa, jetzt sagt er nichts mehr. Nur die Augen lächeln noch mit.

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Die Oma sagt, sie weiß gar nicht, wo die Zeit hin ist. 92 wird sie bald. So alt! Sagt sie. Aber innen drin, da bin ich das gar nicht. Dass ich so alt werde! Die Schwiegertochter sagt, die Oma vergisst jetzt alles. Die Oma sagt, oh Moidl, ich merk mir gar nichts mehr. Sie kann immer weniger. Nicht einmal mehr die Waschmaschine einschalten. Jeden Mittag steigt sie die Treppen in den ersten Stock, ganz langsam, das geht noch. Die Oma sagt, alle ihre Freundinnen sterben. Nur sie sitzt immer noch da. Sie und der Opa könnten es immer noch so schön haben. 64 Jahre sind sie verheiratet. Dann zittert ihr Kinn. Aber leider, sagt sie dann, leider.

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Der Opa, heute brabbelt er nur, man versteht nichts, er ist unruhig, wirr. So ist er jetzt immer. Steht zigmal auf und schlurft durch die Cafeteria, gestützt am Arm des Enkels. Wenn er aufsteht, steht er gebückt, und mit jedem Schritt, den er schlurft, wird er noch kleiner. Bis er fast vornüber fällt, dann schiebt man schnell einen Stuhl hinter ihn und bugsiert ihn darauf. Dann verschnauft er ein bisschen. Und dann geht es wieder weiter. So sehen die Besuche aus, jeden Tag. Seine Ruhelosigkeit ist das Einzige, was von ihm übrig geblieben ist. Dann ist Abendessenszeit. Enkel und Enkelin rollen den Opa an den Tisch im Esszimmer. Streichen ihm über die Haare, sagen Auf Wiedersehen. Geben ihm einen Kuss auf die Wange. Da dreht er sich um, so weit er seinen Kopf noch drehen kann. Er schaut sie an, ganz klar, mit seinen blauen Augen. Und fragt: Geht ihr schon wieder heim?

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