Wandel:Das Performerle

Wandel: Jetzt auch Autor: Boris Palmer.

Jetzt auch Autor: Boris Palmer.

(Foto: Imago)

Boris Palmer ist OB in Tübingen und seit Kurzem auch Autor - auf der Buchmesse huldigt ihm das Volk. Ist ihm nicht unangenehm.

Von Christian Mayer

Es gibt viele Publikumsmagneten auf der Frankfurter Buchmesse 2017. Ehemalige "Tagesthemen"-Moderatoren, die länglich über französischen Weichkäse und Rotwein parlieren, Schlagersänger, die im Spätherbst ihrer Karriere alte Seitensprunggeschichten unters Volk bringen, weltbekannte Autoren wie Dan Brown, Margaret Atwood, Michel Houellebecq. Angesichts dieser Konkurrenz ist es verblüffend, dass einer der diesjährigen Buchmessestars ein schwäbischer Kommunalpolitiker ist, der es zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb zu regionaler Berühmtheit gebracht hat und auf Facebook zum Klartext-Treibauf.

Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister von Tübingen und Sohn eines rebellischen Obstbauers, hat ein Buch mit dem Titel geschrieben: "Wir können nicht allen helfen". Es ist tatsächlich weniger plump, als es klingt, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Flüchtlingskrise 2015, mit Merkels Politik der offenen Grenzen und den konkreten Folgen für die Universitätsstadt, in der Palmer seit 2007 regiert. Und jetzt hockt der Autor im perfekt sitzenden grauen Anzug auf der Buchmessenbühne der ARD und genießt den Applaus. "Erst muss die AfD ins Parlament einziehen, dass sich CDU und CSU bei der Frage der Flüchtlingsbegrenzung einigen. Das hätte man schon vor einem Jahr innerhalb von fünf Minuten erreichen können."

Bei Palmer klingt alles so einfach, so einleuchtend. In angenehmem Akademiker-Schwäbisch spricht er vom Typus des "Trump'schen Mannes", der gerne möchte, "dass die Welt so bleibt, wie sie ischt", und der deshalb vielleicht die AfD wählt, um ein Zeichen zu setzen. Wie umgehen mit der rechten Partei, in der es auch Rechtsextreme gibt? Das wird er hier ständig gefragt, und der 45-Jährige wiederholt sein Mantra: "Ignorieren und totschweigen hat nicht funktioniert, beschimpfen auch nicht, es bleibt also nur der Dialog, die inhaltliche Debatte."

Palmer muss weiter zum nächsten Stand, zum nächsten Crash-Interview; er wirkt nie angestrengt, er redet offenbar für sein Leben gerne. Es ist sein erster und einziger Tag auf der Buchmesse - dann ist er wieder OB von Tübingen, wo inzwischen "die Hälfte der Tatverdächtigen bei Sexualstraftaten" Flüchtlinge seien. Für solche Sätze ist er heftig angegriffen worden, als Angstmacher, Stimmungsmacher. Von manchen sogar als Rassist, der muslimische Asylsuchende unter Generalverdacht stelle. Palmer wehrt das alles ab. Er gibt lieber wieder den guten Tübinger. "Stellen Sie sich mal vor, 500 schwäbische junge Männer wären ein Jahr lang in einer Halle untergebracht, ohne Frauen, ohne Arbeit, ohne Perspektive, die wären dann vielleicht auch nicht mehr sehr nett. Wir Männer brauchen ab und zu eine Frau, damit wir nicht verwahrlosen."

An der grünen Basis, auch "bei den gesinnungsethischen Funktionskadern" seiner Partei, wie er das nennt, würden sie jetzt aufheulen. Beim Buchmesse-Publikum kommt er auch mit zwiespältigen Sprüchen glänzend an - man kann diesem jungenhaften Provinz-Entertainer irgendwie nicht böse sein. Ein älterer Herr will wissen, ob er auch der Jamaika-Verhandlungskommission der Grünen angehöre. "Nein, das machen andere." - "Da sollten Sie aber unbedingt dabei sein. Sonst wird das nichts." Palmer lächelt. Ach, Berlin!

Ein "rechter Säckel" sei er nicht. Sagt er. "Säckel" - das klingt bei ihm geradezu liebevoll

Er wirkt schon jetzt wie die personifizierte Jamaika-Koalition, ein dunkelgrüner Konservativer, den vor allem die anderen gut finden. Christian Lindner von der FDP schätzt sein Buch, und bei der Vorstellung in Berlin saß die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner auf dem Podium, was seinen Parteifreund Jürgen Trittin zu einem giftigen Tweet veranlasste: "Wie, hatte Erika Steinbach keine Zeit? Stattdessen nur Burka-Julia? Bitter für Boris." Auch diese Pointe nutzt er geschickt für seine Zwecke, schließlich wird die ganz weit nach außen abgedriftete Ex-CDU-Abgeordnete Steinbach kaum noch ernst genommen. Wer ihn selbst dagegen als "rechten Säckel" bezeichne, mache es sich zu einfach. So redet er. Säckel, im Dialekt seiner Heimat klingt das geradezu liebevoll.

Wie alle guten Performer auf dieser unglaublich geschwätzigen Buchmesse weiß Palmer, wie man Geschichten erzählt und Pointen setzt. Palmer erzählt gerne die Geschichte vom Tennisplatz in Tübingen: Weil seine Verwaltung unter dem Druck stand, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in kürzester Zeit Hunderte Wohnungen bauen zu müssen, schickte Palmer einen Brandbrief in die Hauptstadt: Nur ohne bürokratische Hindernisse könne man so viel neuen Wohnraum schaffen - also helft uns! Dann hörte er nichts mehr aus Berlin. Deshalb kamen die Tübinger auf die Idee, ein Flüchtlingsheim direkt neben vier alten Tennisplätzen zu bauen, mit den Schlafzimmern an der ruhigen Seite. Geht gar nicht - das verbiete das deutsche Baurecht! "Den Flüchtlingen, die aus dem Krieg kamen, konnte man nicht zumuten, 30 Meter neben einem Tennisplatz zu wohnen, das hätte ja ihren Mittagsschlaf empfindlich gestört." Wieder lacht das Publikum. Die Schlafräume wurden dann an der viel lauteren Straßenseite gebaut, "Straßenverkehrslärm ist nach der Bauordnung ja okay."

Wenn man ihn einen Tag lang begleitet, fällt es schwer, ihn in eine Schublade zu stecken. Palmer sagt einerseits, Deutschland müsse seine Grenzen kontrollieren, es könne nicht alle 65 Millionen Flüchtlinge weltweit aufnehmen, das ist natürlich eine Binse, aber dann ergänzt er im Messetalk mit Bärbel Schäfer: Eine halbe Million Menschen statt einer Million wie im Krisenjahr 2015, das würde das Land im Notfall "organisatorisch stemmen". Warum eine halbe Million? Da bleibt er seltsam vage. Und diesen Gauland, den würde er gerne fragen, wie er das meine, wenn er sich "sein Volk zurückholen" wolle: "Den würde ich in eine Schulklasse in Tübingen schicken, wo ein Drittel der Kinder Migrationshintergrund hat - dann soll er mal sagen, wer hier Deutscher ist."

Noch ein Fünf-Minuten-Auftritt vor der Fernsehkamera: "Bitte, Herr Palmer, sagen Sie uns ein Gedicht auf?" Kopfschütteln, dieses eine Mal fällt ihm tatsächlich nichts ein. Letzte Frage: "Welchen Fehler sollte man auf der Frankfurter Buchmesse auf keinen Fall machen?" Palmer grinst: "Hektisch herumlaufen und zu viele Interviews geben."

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